As you look around
There is nothing
Which is not a flower.
(Basho)
Was Basho hier beschreibt, ist eine Grundlage unseres Lebens, eine Aussage, welche sich übertragen lässt, auf verschiedene Bereiche unseres Alltags, unserer Natur und unserer Arbeit. Alles ist eine Blume. Was bedeutet das? Alles Irdische ist denselben Regeln unterworfen, dem natürlichen Zeitprozess von Wachstum, Veränderung und Vergänglichkeit. Niemand könnte sich anmaßen hier zu widersprechen, oder von sich behaupten, diese Annahmen würden auf ihn nicht zutreffen. Es gibt nichts auf dieser Welt, das nicht geprägt ist von der Zeit, dem Aufeinanderfolgen von Momenten, einmalig und gerichtet in die Zukunft. Und die Zeit hinterlässt ihre Spuren, sie prägt uns und alles, was uns umgibt, lässt uns reifen, blühen, Früchte tragen und vergehen.
Nun habe ich mich bisher allerdings sehr allgemein mit diesem Text Bashos beschäftigt, die Frage, welche mich jedoch beschäftigt ist, welche Rückschlüsse ich nun daraus für auf meine Arbeit als Komponist ziehen kann. Zunächst einmal möchte ich hierbei auf ein Erlebnis eingehen, welches mich in den vergangenen Tagen sehr stark beschäftigt hat. Es handelt sich hierbei um meine erste Uraufführung, zum ersten Mal in meinem Leben wurde ein von mir geschriebenes Stück öffentlich gespielt. „Silence“, eine Komposition für Schlagzeug Solo, war also die erste Musik, die ich selbst von mir gehört habe. Und es war ein überwältigendes Erlebnis, ich war für viele Tage angeregt und berauscht davon. Allerdings nicht, weil ich das Stück so wunderbar finde oder stolz auf meine Arbeit bin, erst recht nicht bin ich begeistert oder zufrieden damit, sondern weil ich dadurch erkannt habe, wie ich mich selbst verändere. Wie meine Arbeit mich prägt und ich mich jeden Tag weiterentwickle, und hierbei musste ich zurückdenken an das Bild der Blume.
Dennoch hat die Uraufführung in mir auch Fragen aufgeworfen, denn das Stück „Silence“ scheint so fern von konstruierter Musik, es ist anders, schwer zu verstehen und irgendwie schwer zu beschreiben. Dies fiel mir erst dadurch auf, dass andere Zuhörer mich darauf angesprochen haben und ich mich daraufhin damit konfrontiert sah, zurückzudenken an die Zeit, in welcher ich das Stück komponiert hatte, um zu verstehen, warum die Komposition so geworden ist, wie sie wurde. Und was mir dabei als erstes auffiel war, dass das Stück gewachsen ist, es hatte sich aus einer kleinen Idee entwickelt und dann verselbstständigt. Ich bin damals mit großer Vorsicht vorgegangen und hatte großen Respekt vor den Klängen, mit welchen ich gearbeitet habe. Und dadurch ist eben dieses von Basho angesprochene Phänomen eingetreten, dass mein Stück zu einer Blume wurde, lebendig, langsam gewachsen und entstanden, um dann in voller Blüte zu strahlen.
Doch was bedeutet dies nun für die Arbeit als Komponist? Zunächst einmal möchte ich auf das Verhältnis des Komponisten zu seinem Werk eingehen. Ich selbst hatte aufgrund meiner westlichen Tradition und Wurzeln immer eine klare Vorstellung vom schöpfenden Künstler. Unserer Vorstellung entspricht es, dass ein Komponist die Musik verwendet, um sich selbst auszudrücken, er als Individuum spricht durch das Medium der Klänge, er organisiert diese nach seinem Willen. Diese Ansicht lässt den Menschen die Natur beherrschen, er hat die Macht darüber und kann durch seine Kraft und Fähigkeiten die Welt gestalten und prägen. Durch seine Theorien, Konzepte, Gedanken und Erkenntnisse möchte er etwas erschaffen, etwas, das voll und ganz aus ihm gewachsen ist. Hier wird der Komponist in den Mittelpunkt gerückt, er wird zum Zentrum des Geschehens, der Individualismus und Drang zur Selbstbestimmtheit kulminiert in einer Verherrlichung des Künstlers. Was allerdings dadurch, gerade in der westlichen Tradition, immer wieder in Vergessenheit oder in den Hintergrund rückt, ist das eigentliche Werk. Viel zu oft werden Texte, Vorträge oder Reden gehalten über den Komponisten als Person und dazu seine Arbeit in ein Verhältnis mit ihm gesetzt.
Aber all das ist eben wider die natürliche Vorstellung, welche bei Basho anklingt. Vielmehr sollte das Werk betrachtet werden und im Mittelpunkt stehen und der Künstler zurücktreten. So denke ich sollte man als Komponist einen anderen Weg gehen, einmal seine Arbeit von der anderen Richtung beginnen. Ausgangspunkt wäre dann das Hören, die Klänge unserer Zeit, die Musik, die uns umgibt. Hierbei würden nicht irgendwelche Theorien, Formeln oder spirituellen Erfahrungen zum Beginn des kreativen Prozesses, sondern der Klang selbst. Ein Komponist sollte so zum Beispiel, bevor er mit der Arbeit beginnt, sich voll und ganz mit den Instrumenten beschäftigen, für die er zu schreiben hat. Denn nur wenn er eine klare Vorstellung von ihrem Klang, ihrer Farbe, ihrer individuellen Gestalt und Eigenart hat, kann er hierfür ein angemessenes Stück entwickeln.
Der zweite Schritt wäre dann, die Kompositionsarbeit nicht als Schöpfungsprozess, sondern als Wachstumsprozess anzusehen. Denn ein Künstler kann nicht aus dem Nichts etwas erschaffen, alles, was er denkt und schreibt, hat zuvor schon ein anderer gedacht und geschrieben und wird sicherlich auch in Zukunft ein anderer erneut schreiben und denken. Der Unterschied allerdings zwischen diesen verschiedenen Zeiten ist die Art, wie der einzelne Mensch arbeitet. Und hierbei meine ich nicht ein sich selbst verwirklichen, sich ausdrücken oder sich selbst verherrlichen, sondern ich meine die ernsthafte Suche nach der lebendigen Musik. Was ist nun lebendige Musik? Wenn man davon ausgeht, dass am Beginn einer Komposition der Klang und das Hören stehen, dann würde sich dieser von selbst entwickeln, wie ein Samenkorn würde der Klang im Kopf des Komponisten aufgehen, wachsen und eine eigene Identität annehmen. Ich denke, hier ist der entscheidende Unterschied zu unserer klassischen Vorstellung- die Musik bekommt eine eigene Identität, basierend auf ihrem Klang und ihrer eigenen Entwicklung, sie wird frei und unabhängig von der Identität des Komponisten.
Das hat allerdings fatale Auswirkungen auf dessen Arbeit, denn wenn die Musik nicht mehr Ausdruck seiner selbst ist, sondern ein eigenständiges Subjekt, dann verliert er seine persönliche Individualität. Er gibt sich selbst auf für die Musik. Dies zeigt sich dann darin, dass er sein Stück mit vollem Respekt gestaltet, er selbst ist nicht bedeutend, nicht was er will steht im Mittelpunkt, sondern der Klang, die natürliche Entwicklung. Und durch diese Selbsthingabe kann etwas Neues entstehen, etwas Wunderbares, eine Musik, die frei ist von menschlichen Definitionen, und die gleichzeitig auch noch einen Bezug zum Komponisten besitzt- jedoch nicht in ihrer Aussage oder Gestaltung, sondern darin, mit wie viel Liebe und Geduld der Künstler vorgegangen ist. Denn die Spuren dessen, der das Stück hat reifen und wachsen lassen, der es gepflegt und gestaltet hat, werden immer zu erkennen sein. Und dann erreichen wir lebendige Musik, die unsere menschliche Unvollkommenheit übersteigt.
Ich wurde von einem Freund gefragt, wie er denn feststellen soll, ob ein Stück gut oder schlecht ist, denn er habe die Musik gehört, fände aber keine Worte dafür, sie zu beschreiben. Und eben das ist das Phänomen der lebendigen Musik, dadurch, dass sie eine eigene Identität besitzt, losgelöst vom schöpfenden Komponisten, übersteigt sie unsere Worte, Definitionen, Regeln und Normen. Sie ist mehr, sie ist vollkommen frei, und der Hörer wird von ihr aufgefordert, sich voll auf sie einzulassen. Dann kann er erkennen, dass das erleben und wahrnehmen dieser Musik seine Sinne anregt und überwältigt, denn was diese souveräne und lebendige Komposition auszeichnet, ist ihre Harmonie.
Harmonie, dieses Wort muss ich zunächst einmal definieren, liegt in dieser Bezeichnung doch der Kern dieses Essays. Wenn ich von Harmonie in der Musik rede, meine ich nicht eine blendende, scheinheilige, bunte, fröhliche, glückliche Musik, die uns eine heile Welt, in der alles stimmig, ruhig und in Ordnung ist, vorgaukelt; ich meine auch keine überirdische, spirituelle, geistige, erleuchtende und meditative Erfahrung; auch meine ich nicht, dass diese Musik perfekt wäre, oder die einzig Wahre, weder verstehe ich meinen Ansatz als den richtigen Weg und zuletzt bedeutet Harmonie keinesfalls, dass die Musik jedem gefallen muss oder soll. Sondern viel mehr verstehe ich darunter eine Aufgabe der menschlichen Konzepte und Ideen, denn unser Geist ist schwach, dafür sind unsere Sinne viel stärker, sie eröffnen uns die Möglichkeit, unsere Unvollkommenheit zu verstehen und zu akzeptieren und den Blick in die Natur zu richten.
Denn die Natur hat viele Gesichter, sie kann schön, schrecklich, grausam, überwältigend, klein, nichtig, vergänglich und so viel mehr sein, was allerdings jede Gestalt besitzt, ist ein Element, das sie alle gemein haben: die Harmonie, das, wonach wir Menschen uns sehnen. Denn in der Natur finden wir diese natürliche Schönheit, diese vollkommene Unvollkommenheit, nach der wir uns so sehr sehnen. Warum sonst sind wir immer wieder zu tiefst berührt, überrascht, angeregt, verändert oder bereichert, wenn wir in Kontakt mit der Natur kommen, sei es nun beim Betrachten eines Wasserfalles, dem Singen der Vögel oder dem Duft der Rosen. Das ist, was ich meine, wenn ich von Harmonie spreche, unsere Sinne werden angeregt auf eine Art und Weise, die mit Worten nicht beschrieben oder erfasst werden kann. Ich habe in einem anderen Essay schon einmal den Begriff der erweiterten Sinnlichkeit definiert, in der Natur findet diese ihren Höhepunkt, denn alles, was wir hier erleben wird, über verschiedene Sinne wahr- und aufgenommen. Und daraus entsteht eben dieses Phänomen der natürlichen Harmonie, frei von menschlichen Werken, die vergänglich und schwach sind, welches uns in Staunen versetzt und extreme Emotionen auslöst.
Immer wieder wird der Begriff der Schönheit verwendet, gerade, wenn es um eine Betrachtung der Kunst geht, doch was ist Schönheit eigentlich? Es ist etwas, das unserer Vorstellung von Vollkommenheit nahe kommt, allerdings auf vielen verschiedenen Ebenen. Wieder meine ich damit nicht eine verklärte oder geblendete Idee der heilen Welt, sondern eine Pluralität vielfältiger Gestalt, wie das Leben. Wenn nun also schön ist, was über unsere menschliche Vorstellung hinausgeht, dann wäre die höchste mögliche Form der nicht zu erreichenden Vollkommenheit die unvollkommene Vollkommenheit. Denn Perfektion, Vollkommenheit, und all diese Begriffe sind nicht möglich, solange es die Zeit gibt. Was immer wieder als „Paradies“ beschrieben wird, setzt das Ende der Zeit voraus, denn, wie ich schon sagte, ist der Verlauf der Zeit damit verbunden, dass sich Ereignisse abwechseln, es Veränderungen gibt, und daraus folgt, dass eben die paradiesische Vollkommenheit nicht erreicht werden kann. Die höchste Form von Schönheit ist also jene, die unsere menschliche Schwäche übersteigt und nicht begreifbar ist, sondern nur noch erfahrbar über unsere Sinne, und das ist jene, die in der von der Natur aufgezeigten Harmonie liegt. Wie lässt sich nun aber jene Harmonie auf die Musik und Arbeit eines Komponisten übertragen?
Ich möchte nun von einem Naturphänomen ausgehen, welches mich seit meiner Kindheit immer wieder bewegt und angeregt hat, den Tropfsteinen. Es ist für uns Menschen immer ein überwältigendes Erlebnis, eine Erfahrung für alle Sinne, eine Tropfsteinhöhle zu besichtigen, denn hier zeigt sich ein verborgenes und unbegreifliches Wunder der Natur. In ihrer Harmonie haben diese Höhlen auf uns eine starke Wirkung, sie sind schön in vielerlei Hinsicht, aber es fällt uns sehr schwer, zu beschreiben, warum sie so schön sind, denn die Tropfsteine entstammen nicht unserer menschlichen Unvollkommenheit, sondern der natürlichen vollkommenen Unvollkommenheit. Nun möchte ich allerdings auf die Entstehung dieser Steine eingehen, da sich hieraus meine Theorie der harmonischen Komposition entwickelt.
Tropfsteine entstehen dadurch, dass Wasser über viele Jahrtausende hinweg fließt und dabei eine Spur hinterlässt. Der in dem Wasser enthaltene Kalk setzt sich an rauen Oberflächen ab und in einem geduldigen Prozess harter Arbeit entsteht daraus ein Tropfstein. Hier lassen sich schon zwei Rückschlüsse durchführen, welche ein Komponist beachten könnte, der erste wäre der Aspekt der Zeit: Die natürliche Harmonie entsteht dadurch, dass für ihre Entstehung eine für uns ewige Zeit benötigt wird, was übertragen bedeutet, ein Komponist muss viel Zeit aufwenden, um sein Werk zu schreiben. Er benötigt viel Geduld und muss stets hart arbeiten und nicht faul werden, sondern sich immer wieder mit seinem Werk auseinandersetzten, es pflegen und großziehen, denn nur so kann es zu voller Blüte heranreifen. Der zweite Punkt ist die Selbstaufgabe des Komponisten, denn das Wasser, welches den Tropfstein erschaffen hat, wird später nicht beachtet werden, es wird vergessen, ist dahingeflossen und vergangen, was allerdings übrig bleibt, ist das Werk, das es hinterlassen hat. Ein Werk, das keine Verkörperung seines Selbst ist, kein Ausdruck seiner Individualität, seiner Person sondern etwas viel Größeres. Etwas, das für die Ewigkeit bestand hat und dadurch die Unvollkommenheit des Schöpfers, hier das Wasser oder der Komponist, übersteigt. Das zeigt uns, dass wenn wir uns als Komponisten voll und ganz hingeben für unsere Arbeit und geduldig die Mühen auf uns nehmen, dann sind wir in der Lage an etwas Größerem mitzuarbeiten, das an die vollkommene Unvollkommenheit herankommt. Der Preis, den wir dafür allerdings zahlen müssen, ist, dass wir uns selbst zurücknehmen, nicht wir sind die Schöpfer, die sich ausdrücken wollen, denn sonst würde erneut nur ein Abbild der menschlichen Schwäche entstehen, sondern wir müssen uns voll auf den Klang einlassen, die lebendige Musik muss sich entwickeln und wachsen, und sie wird unsere Spuren tragen, wenn sie einmal in all ihrer Pracht aufblühen wird. Und solch eine Musik wäre ein Wunder, sie würde all unsere Sinne fluten und reizen, uns überwältigen und überfordern, in ihrer Harmonie, unverständlichen Schönheit und vollkommenen Unvollkommenheit.
Die Frage, die sich dann allerdings stellen wird ist diese, wem diese Musik zugeschrieben wird, sprengt sie doch unsere menschlichen Vorstellungen? Wir dürfen nicht im klassischen Sinne antworten, dass der Komponist zum Herrscher und Besitzer der Musik wird, er hat nur seine Arbeit vollbracht und in Demut, Selbstkritik und Hoffnung den Kampf auf sich genommen, um die Klänge zum Leben zu erwecken. Gleichfalls ist es nicht die Musik einer Gesellschaft, Gruppe oder einzelner Menschen, sondern eine solche harmonische Komposition wäre Musik für alle, für jeden verständlich, denn sie entfaltet ihre gesamte Kraft dadurch, das sie über alle Sinne wahrzunehmen und erlebbar wird; eben wie ein Naturphänomen. Aus diesem Grund sollte sie eigentlich sich selbst zugeschrieben werden, die Klänge einer solchen Komposition hätten ihre eigene Identität, ihre eigene Geschichte und Gestalt. Solch eine Musik wäre quasi geschrieben allein zur Ehre der Musik, der Klänge, des Hörens, und diese Widmung sollte sie auch tragen. Nicht der Name des Komponisten, der nur ein hoffnungsvoller Diener ist, seine Arbeit vollbringt, indem er die Klänge pflegt und wachsen lässt, darf über solch einer harmonischen Komposition stehen, denn dann wäre sie wieder in der menschlichen Unvollkommenheit gefangen. Sondern allein der individuelle Klang selbst darf sich anmaßen, solch ein Stück für sich zu beanspruchen.
Ich muss nun allerdings zwei Dinge klarstellen. Erstens, es handelt sich hierbei nur um eine gedankliche Entwicklung meiner selbst, ein Konzept das keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit, Richtigkeit oder Anerkennung besitzt, sondern allein dem Zwecke dient, meine Gedanken und Ideen festzuhalten, in der Hoffnung, dass andere sie in ihrem Herzen und ihrem Geiste bewegen werden und dadurch zum Umdenken und Handeln angeregt werden. Gleichfalls handelt es sich hier um ein sehr theoretisches, konfuses, verwirrendes und vermutlich unverständliches Gerüst, von dem ich fürchte, dass es von den meisten Lesern nicht verstanden wird. Daher möchte ich nun noch einen Versuch unternehmen, die These von der harmonischen Komposition zu übertragen, in die Praxis und an drei Beispielen verdeutlichen.
Das erste wäre die Gamelan Musik, welche ich hier bei meinem Studium unter Dieter Mack kennenlerne. Es gibt an unserer Hochschule ein Ensemble, welches Stücke dieser traditionell javanischen Musik einstudiert und aufführt. Was mir hierbei zunächst auffiel, war die Schwebung in der Stimmung der Instrumente. Hier wird aktiv eingegriffen auf die Unvollkommenheit, sie wird angenommen und erhöht zu etwas Überirdischen, Göttlichen. Denn durch diesen scheinbaren Fehler, diese Unreinheit, wird die Musik vollkommen neu erfahrbar, sie hat eine ganz eigene Aura, sie ist vollkommen unvollkommen. Und dadurch entfaltet sie ihre emotionale Wirkung, denn über Generationen hinweg wird diese Musik erhalten und gepflegt, sie ist eine Verdeutlichung der Harmonie, die eben darin besteht, dass sie die Imperfektion annimmt und darauf aufbaut.
Ähnliches finde ich auch immer wieder im Werk von Toru Takemitsu, einem Komponisten, der mich in meiner Zeit vor dem Studium sehr stark beschäftigt hat und den ich jetzt wieder „neu“ entdeckt habe. Für ihn steckt das Mysterium des Lebens und der Schönheit in der Pluralität der Welt, dem stetigen Dualismus, den Kämpfen, dem Aufblühen und Vergehen und in der überwältigenden Harmonie der Natur. Was er daraus für sein Werk ableitet, ist keine verklärende, fantastische oder spirituelle Musik, die wieder der heilen Welt Lüge entsprechen würde, sondern ein ernsthaftes Suchen nach dem Klang. Dem individuellen Klang. Er arbeitet mit einer solchen Vorsicht, Demut und Bescheidenheit, dass es ihm möglich ist, immer weiter zu suchen nach dem nächsten Klang für seine Musik. Seine Werke sind wie Blumen, sie finden in seinen Gedanken und Erfahrungen ihren Ursprung, wachsen dann langsam und wohlbehütet heran, um dann aufzublühen, indem wir sie hören. Denn nur dadurch, dass wir die Klänge vernehmen, uns von ihnen ergreifen und bewegen lassen, können sie lebendig werden. Dann allerdings entwickeln sie eine unglaubliche Kraft, die unsere Definitionen von Schönheit und Harmonie übersteigt. Und Spuren dieser Kraft finde ich immer wieder in der Musik von Toru Takemitsu.
Aber eben auch, ganz unerwartet und unverhofft auch in meinem Stück „Silence“. Ich hatte dieses Werk zu Beginn meines Studiums geschrieben und dann geriet es bei mir schnell in Vergessenheit, ich widmete mich andern Stücken und hatte andere Probleme und Kämpfe auszustehen. Doch als ich es zum ersten Mal aufgeführt hörte, war ich überwältigt. Ich kann es immer noch nicht beschreiben, was es ist, dass diese Musik so stark macht, ich habe das Stück immer wieder angehört, und ich muss sagen, es ist nicht mehr meine Musik. Ich erkenne mich nicht mehr darin als Schöpfer oder Komponist, sondern nur noch als erstaunter Hörer dieser Musik. Denn was ich erkannt habe ist, dass das Stück Klänge entwickelt und sie leben lässt. Die Musik hat ihre eigene Gestalt und Individualität, sie ist frei von mir als Komponisten. Und das hat mich zurückdenken lassen an meine damalige Arbeitsweise. Ich hatte sehr viel Musik gehört, um den Klang des Schlagzeuges zu verstehen und dann hatte ich aus diesem Klang heraus das Stück geschrieben- und dabei habe ich, so denke ich zumindest, dieses Stadium der Selbstaufgabe erreicht. Die Klänge haben sich verselbstständigt, sind frei geworden und ich habe sie nur niedergeschrieben, gepflegt, behütet und ihnen gedient. Und daher muss ich meinem Freund antworten, wenn er mich fragt, ob es nun ein gutes oder schlechtes Stück sei, das es nicht an mir ist, dies zu beurteilen. Denn ich bin nur ein schwacher, unvollkommener, kleiner und zweifelnder Mensch, der niemals in der Lage ist, etwas vollkommen Unvollkommenes zu erschaffen. Alles was ich sagen kann ist, dass diese Musik über unsere Vorstellungen von gut und schlecht hinausgeht, sie geht über unsere beschränkten Möglichkeiten hinaus, denn sie ist lebendige Musik. Und ich denke, dass dies eine Möglichkeit ist, um seine Spuren zu hinterlassen, in geduldiger und bescheidener Arbeit und der Hoffnung, dass die daraus entstehende Musik Klänge enthält, die sich frei entfalten, die zum Leben erweckt werden und damit ein harmonisches Gefüge eingehen, dass unsere erweiterte Sinnlichkeit anregt und eine Aura erschafft, die an die vollkommene Unvollkommenheit heranreicht.
14.4.2015 Lübeck