III. Störklang

 

 

über die lippen dieser leute wird keine einzige klage kommen. ihre pseudo-geschichten interessieren mich nicht. mich interessiert: was macht eine königin im dreck.

(ronald m. schernikau)

 

 

 

Ich habe bisher nur zwei ästhetische Grundlagen meiner Arbeit genannt, Purity und Clarity, da diese sich intensiv mit dem Begriff der Schönheit beschäftigen. Die dritte Grundlage jedoch ist diejenige, die all die vielen anderen Aspekte und Gedanken meiner Werke mit zu verantworten hat, wenn nicht sogar die Entscheidendste für die meisten meiner Entwicklungen ist: Brutality.

 

Die Gefahr der Schönheit ist, dass man sich zu sehr in sie verliebt. Man sieht den goldenen Schmuck glänzen und funkeln und vergisst dabei die Schmerzen und das Leid derer, die in den Minen das Gold schürfen. Ich selbst verliebe mich oft in meine Klänge, sie sind mir so wichtig, wie Diamanten, wie kleine Kinder schütze und pflege ich sie, nichts soll sie stören, beschädigen oder verschmutzen. Doch dann wird die Kunst nett, gefällig und belanglos. Kunst muss Ecken haben, muss Kanten haben, man muss sich an ihr schneiden, sie muss aufwühlen und verwirren, sie muss kompliziert sein, verrückt, wahnsinnig, energetisch. Zumindest sollte sie es auch sein, aber selbstverständlich nicht nur. Die Gefahr ist wie bei allem, die Radikalität und der Extremismus, dieser Punkt an welchem ein wichtiger Gedanke zur Ideologie wird und den es zu vermeiden gilt.

 

Brutality bedeutet Rohheit, Brutalität und Unmenschlichkeit. Damit ist für mich eine gewisse Härte, Strenge, Kargheit in der Komposition,das fasziniert Sein von Unschönheit, Deformation und Hässlichkeit sowie eine Anti-Haltung gegenüber Konventionen, Regeln und Klischees verbunden. Gleichzeitig ist es mir wichtig, aus eben diesem wichtigen Element nicht nur Destruktion und Extremismus zu entwickeln, sondern eben gerade auch gegenteilig, neue Wege der Berührung und Rührung durch Musik und Kunst zu entdecken. Denn das Entscheidende, sowohl an der wütenden und verzweifelten, als auch an der konsequent positiven und naiv hoffnungsvollen Brutality, ist der Humanismus, die Menschlichkeit. Intensiv und nicht nur nett werden Werke und Arbeiten dann, wenn sie aus dem Leben kommen, für den Menschen erschaffen wurden und an seiner Psychologie orientiert sind.

 

Ich bin ein großer Liebhaber von Filmen. Filme haben meine Freizeit über weite Teile meiner Jugend hinweg dominiert. Ich habe intensive Analysen und Studien zur Filmgeschichte, Filmtechnik und Filmästhetik betrieben. Ich hatte den Wunsch gehegt, eines Tages nach Amerika, nach Hollywood zu gehen, um dort erfolgreicher Komponist für Filmmusik zu werden und einen Oscar zu gewinnen. Ich hatte einen mehrwöchigen Kurs über die Entwicklung des Film in der Deutschen Schülerakademie besucht. Ich hatte über einen mehrjährigen Zeitraum fast jeden Tag mindestens einen Film angesehen. Ich wurde von Filmen geprägt, ich wurde angeregt von den Gedanken der Regisseure, der Dramaturgie und Struktur ihrer Drehbücher, der Ästhetik des Gesamtkunstwerks Film.

 

Polanski war der Erste, mit seinen unglaublich intensiven Horrorfilmen, diesem psychischen Druck, welchen er in seinen Bildern erzeugt, dieser schmerzlichen Nähe und direkten Identifikation mit den Charakteren des Films. Es folgten Lynch, mit seinen verstörenden und abstoßenden Kurzfilmen, van Sant, mit seinem stillen und aufwühlenden Film „Elephant“, die Regisseure der Bewegung Dogma 95, mit ihren gnadenlos authentischen und realistischen Werken, Nolan, mit seinen intelligenten und ungewöhnlichen Blockbustern, Tarantino mit seinem Jahrhundertwerk „Pulp Fiction“, Larry Clark, mit seinen schonungslosen und brutalen Filmen über die Jugendlichen der Skateboard Szene, Hitchcock, mit seinen Thrillern, die den Anfang bilden, den Grundstein dieses Genres und viele weitere Künstler, die ich in diesem Rahmen nicht alle auflisten kann. Doch die stärksten drei Regisseure blieben für mich Stanley Kubrick, mit seinen kraftvollen Bildern und auf Höchstleistung getrimmten Schauspielern, Michael Haneke, mit den stärksten, erbarmungslosesten und schmerzlichsten Drehbüchern, die je geschrieben wurden und noch dazu mit seiner unerträglichen Stille und zähen Langsamkeit oder Geduld in der Erzählweise und Krzysztof Kieslowski, der nicht nur die Zeit und Menschen des kalten Krieges in Polen festhielt, sondern der den Alltag, die Probleme und Kämpfe jedes Einzelnen in den Mittelpunkt und das Zentrum seiner Filme rückte. „I believe everybody’s life is worthy of scrutiny, has its secrets and dramas. People don’t talk about their lives because they’re embarrassed. They don’t want to open old wounds or are afraid of appearing old-fashioned and sentimental.” (Krzysztof Kieslowski). Seitdem ist der „Psychological horror and thriller“ mein absolutes Lieblingsgenre.

 

„Psychologische“ Filme beruhen auf einfachen Prinzipien und Grundlagen (Im folgenden werde ich die deutsche Übersetzung „psychologische“ verwenden für „psychological“, im Vorzug gegenüber „seelische“, da es hierbei vor allem um einen Genrebegriff und ein Wort zur Zusammenfassung verschiedener Entwicklungen und Tendenzen geht und nicht um einen medizinischen oder abstrakten Terminus). Die Erzählungen psychologischer Filme beruhen auf häuslichen, alltäglichen, persönlichen Gegebenheiten, eine turbulente, dramatische, spannungsreiche Handlung wird unterdrückt und ein Nervenkitzel entsteht lediglich durch die Erforschung der psychischen Eigenschaften, Probleme, Abnormalitäten, Krankheiten und Prinzipien der Charaktere. Es geht um die Seelenzustände und Befindlichkeiten, um Sichtweisen, Erkenntnisse und die Wahrnehmung, um Verzerrung und Entstellung der Gedanken und Ideen und um innere und ganz grundlegende Kämpfe und Anstrengungen mit der Realität, welche die Individuen umgibt, klarzukommen. Psychologische Filme und auch Literatur, bildende Kunst, Theater, Musik, etc., welche in diese psychologische Richtung intendiert sind, werden beherrscht von Ungewissheiten, Unbestimmtheiten, Unheimlichkeiten, Unscheinbarkeiten, Unsicherheiten, Ungenauigkeiten, Unstetigkeiten, Unwahrheiten, schlichtweg von Negationen. Psychologische Kunst ist die Kunst des Negativen, oft auch wörtlich genommen, des Dunklen, Pessimistischen, Destruktiven und Hässlichen. Aber viel entscheidender, als der negative Aspekt, ist bei diesen Negationen der psychologischen Kunst das, was abwesend ist. Die Abwesenheit ist das eigentlich Verstörende und Dramatische, nicht das, was vorliegend und aktiv zu sehen ist, sondern die zerstörten Träume, die enttäuschten Erwartungen, die fehlende Sicherheit, die vernichtete Geborgenheit, die mangelnde konventionelle Eindeutigkeit. Stattdessen steht man vor einem Trümmerhaufen der Möglichkeiten, der Ideen und der Fragmente von Erinnerungen, Hoffnungen und des vergangenen Schönen.

 

„Debris“ hieß meine erste Arbeit, welche als psychologische Komposition konzipiert war. Debris bedeutet Trümmer, Schutt, Geröll, Ablagerung, Fremdkörper und bezeichnet ganz gut, worum es mir in den sechs Installationen ging, aus denen das Werk bestand. Alle sind Symbole des Scheiterns, Überbleibsel aus Versuchen, etwas zu erschaffen, sie sind ein Haufen aus Monumenten der Abwesenheit. Die im Auftrag der Sammlung Froehlich zu einer Ausstellung von Arbeiten der Künstler Bruce Nauman und Damien Hirst, wobei ich Letzteren bewusst in meiner Beschäftigung mit der Galerie und dem Entstehungsprozess meiner Komposition ausgelassen und ignoriert habe, erstellte Collage aus Klanginstallation, Literatur, Kunstwerk, Performance und Musik wurde, wie schon an vorheriger Stelle angedeutet, zu meinem bis dato stärksten und persönlichsten Werk. Denn zum ersten, in diesem Umfang und verbunden mit dieser großen Freiheit auch einzigen Mal, war es mir 2015 möglich, all die verschiedenen Disziplinen, welche mich interessieren und welche ich selbst ausübe, zu vereinen. Gleichzeitig bot mir diese Kombination aus verschiedenen Medien genau die Möglichkeit, welche ich gesucht hatte, um ein psychologisches Gesamtwerk zu kreieren, inspiriert und im Wechselspiel mit der Kunst Bruce Naumans, des Künstlers, welcher mich nachhaltig beeinflusst hat und für mich der Größte seiner Generation ist.

 

“That means that when people walk into it they don’t know why they feel the way they feel, but it’s actually all been orchestrated.” (Ilse Crawford). Im Zentrum von “Debris” standen das Gebäude der Stiftung, mit seiner besonderen und inspirierenden Architektur und die darin ausgestellten Objekte von Nauman und anderen Künstlern, in dessen Gesamtbild sich die Elemente meiner Arbeit einfügten und eingliederten. Wie auch bei meinen späteren Installationen waren diese versteckt, man musste sie selbstständig suchen, man stand stets vor der Frage, war dies nun ein Teil des Kunstwerks oder nicht. Dabei wurden der Rezipient und dessen Unterbewusstsein von Anfang an gezielt manipuliert und von unsichtbaren Fäden geleitet. „Debris“ war verteilt auf die drei Etagen des Ausstellungsgebäudes und die verschiedenen darinnen liegenden Räume, allerdings ermöglichte die offene Raumarchitektur bis zu einem gewissen Grad eine Durchhörbarkeit und verband somit die einzelnen Stationen miteinander. Der Hörer konnte sich frei bewegen, konnte sich anziehen lassen von fernen Klängen und konnte irritiert werden von plötzlichen Störungen aus anderen Räumen.

 

Abwesenheit ist omnipräsent in Bruce Naumans Werken. Nicht nur in den Skulpturen von „negativen Räumen“, in welchen er den Raum unter seinem Stuhl in Beton gegossen, oder die Fläche zwischen zwei auf dem Boden stehenden Boxen, oder Löcher in der Form seiner Taille und Handgelenke, oder den Raum unter seiner Hand, während er seinen Namen schrieb, ausstellt. Eine seiner stärksten Arbeiten ist die gusseiserne Plastik „Henry Moore Bound to Fail“, ein Abdruck seiner hinter dem Rücken mit Stricken um den Körper festgebundenen Arme. Henry Moore, einer der erfolgreichsten und wegweisendsten englischen Bildhauer, dessen Werk ich in einer Ausstellung im Arp Museum Rolandseck bewundern konnte, dominierte für Jahrzente nach ihm mit seiner Stilistik die Art und Weise, wie moderne Bildhauerei ausgeübt wurde. Mit diesem Erbe und dieser Tradition sah sich der junge Bruce Nauman, selbst bildhauerisch tätig, konfrontiert und suchte nach Wegen und Möglichkeiten, darüber hinaus oder an ihm vorbei weiterzugehen. Sein „Henry Moore Bound to Fail“ ist ein Sinnbild dieses Zwangs, dieser brisanten Klemme, in der sich junge Künstler befinden, wenn sie sich gegen Vorhergegangenes durchsetzen und ihre eigene Meinung und Kunst emanzipieren müssen.

 

Es geht um den Kampf, der zur Entstehung eines Werkes führt. Um den inneren Konflikt, das ständige Scheitern, das ohnmächtig und betäubt Sein, die Unfähigkeit, klar zu denken und etwas Neues zu erschaffen, die unendlichen Zweifel, Ängste und Unsicherheiten und auch um die unbezwingbare Besessenheit, die Notwendigkeit, den Tatendrang. Es geht um den Ursprung der Kunst, um das, was einen Künstler zum Künstler macht. Aspekte, die Nauman in das Zentrum seiner Arbeit gestellt hat. Seine Werke beschäftigen sich intensiv mit diesen Fragen, es geht nicht mehr nur um das fertige Resultat, welches ausgestellt und bestaunt werden soll, sondern es geht gerade auch um den Prozess einer künstlerischen Tätigkeit und seine Arbeiten lassen den Betrachter aktiv werden, er wird herausgefordert, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, er muss es psychisch erleben.

 

Der Aufzug war der Mittelpunkt von „Debris“. Er verband die unterschiedlichen Ebenen der Ausstellung miteinander, durch ihn musste man immer wieder hindurchgehen, außer man war ein Feigling und wich aus auf das scheinbar sichere Treppenhaus. Er isolierte den Betrachter und sperrte ihn für eine kurze Zeit ein, hielt ihn gefangen in seinem metallenen Käfig. Für diesen Augenblick war der Betrachter das Opfer, die Laborratte, das Versuchsobjekt, dem Experiment schutzlos ausgeliefert. Im Aufzug befindet sich ein Kassettenrekorder auf welchem in ununterbrochener Wiederholung der Text „Bound to Fail“ in leise geflüstertem Ton zu hören war. Der Sprecher sprach darin den Besucher direkt an, genau „Du“ bist gemeint, persönlich genommen und allein gelassen. Es folgte eine heftige Tirade an Selbstverzweiflung, Depressivität, suizidalen Gedanken, Hoffnungslosigkeit, Schwermut und Wahnsinn, „du“ wirst niedergemacht, schlechtgeredet, beleidigt, provoziert und unter die Wasseroberfläche gedrückt, bis du keine Luft mehr bekommst, dir schwarz vor Augen wird und deine Brust vor Schmerzen zerreißen möchte. Wer es lang genug aushielt in dieser kleinen Kammer, wird danach nicht mehr gewesen sein, wie zuvor und vielleicht hatte er nachvollziehen können, was es heißt, zum Scheitern verurteilt zu sein und doch immer weiter zu kämpfen.

 

Denn die anderen Räume zeigten, was geschehen kann, wenn man den Mut und die Kraft und aufbringt, um weiter zu kämpfen. Die fünf übrigen Installationen verdeutlichen weitere wichtige Abschnitte und Stationen der kreativen Tätigkeit. Da war in „Raw War“ der an seinem Schreibtisch sitzende und live komponierende, später, in einem Performancetalk, durch die Ausstellung führende Komponist im obersten Stockwerk; das in der Besenkammer versteckte „Make Me Think Me“, bestehend aus einem Walkman mit Kopfhörern über die man den intimsten und persönlichsten Klängen eines Komponisten lauschen konnte, dem Geräusch des Schreibens auf Papier; „Double No“, der von zerknüllten Skizzen überquellende Papierkorb aus dessen Innerstem heraus man nur das trockene und unbarmherzige Knistern und Reißen von Papier vernahm; „Setting a good Corner“ im Lagerraum der Galerie, welches mit seinen Tonaufnahmen von traditionellen Handwerksarbeiten wie Sägen, Hämmern und Schrauben Bezug nahm auf das, was weithin als normale Arbeit gilt und zu guter Letzt der Schallplattenspieler, auf welchem die vollendete, interpretierte und gepresste Komposition „Player for Bruce“ für präpariertes Klavier zu hören war.

 

Es ist ein Spiel und dennoch so ernst. Es ist ein Spiel und doch werden wir davon mitgenommen, beeinflusst, manipuliert und überwältigt. Es ist alles so einfach, so klar und deutlich, wenn man es aus der Ferne und sicheren Distanz betrachtet, aber sobald man es selbst erlebt, selbst fühlt, selbst durchläuft, versteht man, wie kompliziert, verwirrend und enttäuschend es ist. Denn es fehlt so einiges, nichts ist sicher, alles entsteht aus dem Zittern. Es ist ein Psychoterror, der in „Debris“ betrieben wird. Es ist eine Folter, ein Gewaltakt, ein Gefängnis, welchem sich die Besucher aussetzen müssen oder besser gesagt, freiwillig ausliefern. Der Reiz des Verbotenen, des Dunklen, des Neuen, des Abgründigen, er treibt uns alle an, diese Neugier ist, weshalb psychologische Kunst so besonders ist. Und genau das ist es,was Brutality in meiner Kunst bedeutet.

 

„Debris“ ist eine einmalige Arbeit. Sie wurde zwar in Lübeck im Rahmen des Brahmsfestivals noch einmal aufgeführt, wofür ich später den Alumni-Preis der Musikhochschule als beste Komposition des Jahres erhalten sollte, doch es ist ein Stück, welches in die damalige Ausstellung der Galerie Froehlich zu Bruce Nauman gehört, welche nur an diesem Abend in der Reihe „Sara Dahme trifft…“ so funktionieren konnte. Das ist das besondere an Performances, an Happenings und an interdisziplinären Gesamtkunstwerken, man muss sie erleben, man kann sie nicht wiederholen und alle Berichte, Aufnahmen und Erklärungen können nicht verständlich machen, wie es wirklich war. Und deshalb habe ich auch noch so lange danach Schwierigkeiten gehabt, an diese Arbeit anzuknüpfen. Ich widmete mich in meinen Werken vorrangig der Purity und Clarity, die Brutality war zwar immer im Hintergrund präsent und auf weniger radikale und aufdringliche Art auch in meiner Musik verankert, doch erst mit der Komposition von „Nonett I: Sieben Miniaturen auf einen Text von Karl Marx“ wagte ich mich zum ersten Mal an das Konzept von Brutality in der Instrumentalmusik.

 

Politische Musik ist ein weites Feld, ein überstrapazierter Modebegriff, eine contradictio in adiecto und etwas, das mich vor allem in neuester Zeit sehr beschäftigt hat. Heute, im Jahr 2018, erscheint es mir immer wichtiger zu werden, aktiv Stellung zu nehmen zu politischen Themen, bewusst seine Meinung zu vertreten und für Werte und Moralvorstellungen einzutreten, denn nationalistische, extremistische und ideologisch äußerst fragwürdige Tendenzen erhalten immer stärkeren Rückhalt und Zulauf in der Gesellschaft, Präsenz in den Medien und Macht, durch das Schüren von Ängsten und Feindbilden sowie dem gleichzeitigen Predigen von scheinheiligen Wahrheiten. Die Dummheit scheint sich immer weiter auszubreiten, die aktive und selbstverantwortliche Dummheit, von Menschen, die sich dem Fanatismus, egal welcher Ausprägung, hingeben und nicht mehr selbst nachdenken und anständig mit ihren Mitmenschen und der gesamten Welt umgehen. Der Weltschmerz nimmt zu, wenn man immer wieder und in immer häufigerer Abfolge auf die Probleme, Katastrophen und Missstände hingewiesen wird, welche vom Kleinen in den Familien über die Gesellschaft in Deutschland und Europa bis hin zur Erde als Gesamtheit, stattfinden.

 

„Es ist, wie es ist. Und es ist fürchterlich.“ (J. H. Jahnn). Weltschmerz, das ist die Explosion, der gewaltsame Ausbruch von Emotionen, die Wut über all das Leid, die blitzartige Entladung an aufgestauten Energien, an Anspannung. Das wohl simpelste und kraftvollste Symbol für den Weltschmerz ist der laute Schrei. Er verkörpert den Protest, den Aufschrei, die Rebellion einer Gruppe, meist einer Minderheit, aus dem Untergrund heraus, auf den Straßen, gegen alle und alles. Er verkörpert die Ohnmacht, die Lähmung im Anblick der Unfähigkeit, wirklich etwas verändern zu können, zu klein und schwach zu sein im Vergleich zu den Differenzen dieser Welt, die Unmöglichkeit, mit diesem Schrei etwas Ernsthaftes zu erreichen, einen Stein ins Rollen zu bringen. Er verkörpert die Kräfte, die vor allem auch gegen sich selbst gerichtet sind, die Selbstverletzung, die Selbstaufgabe, Resignation und der Selbstbetrug, darüber, dass diese nicht angepasste Haltung, diese Nonkonformität, diese Verweigerung des Stillstands, etwas anderes ist, als nur ein Selbsterhaltungsmechanismus, um nicht an dem Weltschmerz zugrunde zu gehen. Den Schrei findet man nicht so oft in der schönen, bürgerlichen, gemäßigten Kunstmusik, wenn auch in der zeitgenössischen Musik des letzten Jahrhunderts schon etwas häufiger. Für mich ist er jedoch untrennbar verbunden mit der Popmusik, vor allem den Underground Bewegungen, wie Industrial und Noise Music, mit ihrer extremen Härte, Radikalität, destruktiven und verletzenden Brutalität und psychisch intensiven und existenziellen Direktheit und Ungeschöntheit. Ich denke hierbei an Künstler, wie Merzbow, Laibach, Clock DVA, Front Line Assembly, Keijy Haino und John Zorn. Vor allem das Album „Cuts of Guilt, Cuts Deeper“ von Merzbow, Mats Gustafsson, Balázs Pándi und Thursto Moore war für die Komposition „Nonett I“ für zwei Flöten, Oboe d’amore, Posaune, Kontrabass, drei Schlagzeuger und Sopran eine entscheidende Inspirationsquelle.

 

So besteht der erste Satz der sieben Miniaturen „Come to an end“ nur aus einer neun Sekunden langen Lärmwand, bei der alle Instrumentalisten (die Sopranistin ausgelassen) in kräftigstem ffff, extremsten Lagen und schnellen, polyrhythmischen Flächen spielen. Dieser Satz ist ein neun Sekunden langer Aufschrei, ein Block aus hartem Metall oder Stein, kalt, unmenschlich, schmerzhaft und eiskalt, welcher einfach nur ausgestellt, roh und ungeschönt dem Publikum vor die Ohren geworfen wird. Diese Blöcke aus ungedämpfter und direkter Gewalt und reiner Energie treten in meinen Werken immer wieder, als Verkörperung des vorher definierten Schreis im Hinblick auf den Weltschmerz, auf. So auch in beiden großen Orchesterstücken, im „Triptych“ (im ersten Satz „I. Pink and Turquoise“) und „Châtaigne“ im vollen Orchestertutti als massive Klangfronten, in meinem „Quintett II“ in dröhnenden und exzessiven Ausbrüchen der beiden Pianisten und zuletzt auch in meiner allerersten Komposition während des Studiums, „Silence“ für Schlagzeug Solo, die mit einem crescendierenden Tremolo bis zur Schmerzgrenze auf dem Tamtam endet.

 

An diesen Beispielen wurden auch schon zwei weitere Techniken deutlich, mit deren Hilfe ich die Brutality in meine Instrumentalmusik bringe: die Verwendung von Brüchen, Abbrüchen und Fragmenten sowie eine blockhafte Struktur und Anordnung einzelner Abschnitte zu einer großen Komposition. „Schneiden heißt, die totale Kontrolle zu behalten, egal, was passiert. Es ist ziemlich aggressiv.“ (Louise Bourgeoise). In „Châtaigne“ ist dies sehr deutlich und offensichtlich zu sehen, das Stück ist aufgebaut, wie ein großes Puzzle aus vielen kleinen Teilen. Dabei gibt es häufig ähnliche Einheiten, die in variierter Form immer wieder auftreten, aber dann umgeben werden von anderen Abschnitten, die vielleicht als Hinführung oder als Kontrast dazu fungieren, sodass ein unerwarteter Wechsel in der Klangfarbe, Lage oder Stimmung entsteht. Vereint werden all diese Blöcke dadurch, dass sie zum Einen um sich selbst kreisen, also eher statisch sind und nicht dramaturgisch entwickelnd, zum Anderen dass der Anordnung eine innere Logik folgt. Das Puzzle kann nicht durch Willkür und Zufall gelöst werden, weshalb ich auch mit Aleatorik und offenen Formen in der Musik nichts anfangen kann, sondern durch eine bewusste Entscheidung und Zusammensetzung der richtigen Teile an ihre passenden Plätze. Dabei können die Brüche auch sehr hart und unverhofft kommen, das Timing ist entscheidend. So zum Beispiel die Abfolge von lautem Tutti Ausbruch über eine geflüstert und gehauchte Fläche hin zu einem klaren und hellen Raum in der hohen Lage, welche einen klanglichen Fluss bilden, während dann, wenn die ffff-Explosion im späteren Teil der Komposition wiederkehrt, dies ganz unverhofft und erschreckend geschieht, da zuvor ein ruhiger und scheinbar abschließender Choral erklang. Mit diesen Feinheiten in der Anordnung auf Mikroebene entsteht somit ein lebendiges, teils fließendes und teils kantiges, teils sich organisch aufbauendes und teils zäh auf der Stille tretendes Gebilde.

 

Karl Marx beschreibt in dem Aphorismus, welcher den sieben Miniaturen des Nonetts zugrunde liegt, die Überlegung, inwieweit Kunst mit der Gesellschaft, dem Zeitgeist und Fortschritt, verbunden und davon abhängig ist. Seiner Ansicht nach, sind die großen Dramen und die Poetik des antiken Griechenlands in seiner Zeit, dem 19. Jahrhundert undenkbar und unvorstellbar geworden, weil sie zu weltfremd und durch die Technologie des Buchdrucks in der Gesellschaftsstruktur der industriellen Revolution einfach nicht mehr passend wären. Dieselbe Frage stelle ich mir immer wieder in Hinblick auf die Entwicklungen im letzten Jahrhundert und der Umgebung, in welcher ich mich heute, wiederfinde. Wie kann so etwas, wie klassische Kunstmusik, reine Instrumentalmusik an sich, heute noch möglich sein? Wie kann Poesie heute noch gedacht werden? Und wie kann man sich politisch bekennen und seinen Gedanken Ausdruck verleihen?

 

Ich habe lange daran gekämpft, an dem Text von Marx und an meiner Einstellung als Künstler, an meiner Kompositionsweise und Ästhetik und aus der Verzweiflung, Unsicherheit und Hoffnung heraus, entstand das Nonett. Es ist das erste Mal, dass ich Miniaturen komponiert habe, eine Form, welche mich schon immer gereizt hat, aber die ich immer als zu riskant und heikel empfunden habe. Historisch sind Miniaturen oft Werke von höchster Verdichtung gewesen, die Kulmination größter Komplexität und aufwendiger Gedankenstrukturen in einer reduzierten und auf den Punkt gebrachten Form, Meisterwerke, die in wenigen Sekunden alles ausdrücken, was notwendig ist (man denke nur an die Arbeiten von Anton Webern). Für mich wurde die Miniatur zum Gegenteil davon, sie ermöglichte mir die Freiheit, einfach mal loszulassen, wirklich zu experimentieren, verschiedene Facetten und Möglichkeiten auszudrücken und einfach mal Unfug zu bauen. Das, was Industrial- und Noise-Music so stark macht, ist dieser ungehemmte Umgang mit allem, auch dem Lächerlichen, Dilettantischen und Absurden und diese Grundhaltung regte mich an, diese Miniaturen zu wagen.

 

Sieben Stücke, sieben Versuche, eine Musik aus den Klängen meiner Zeit heraus zu erschaffen, sieben Strategien, mit der Neuen Musik und dem klassischen Kompositionshandwerk auch heute noch umzugehen, sieben Perspektiven auf die Ästhetik der Brutality, die Strenge, Kargheit, Unschönheit, Deformation und Hässlichkeit. „Come to an end“ ist die Kapitulation, der Schrei und Weltschmerz, so wie er zuvor schon beschrieben wurde. Dieser Satz steht in meiner Anordnung der Miniaturen, welche den Musikern in einer Aufführung freigestellt ist, so wie ich sie in meinem Abschlusskonzert ausgeführt habe, an erster Stelle. Das, was in „Châtaigne“ durch die Aneinanderreihung und Verschachtelung eine große Gesamtheit bildet, habe ich im „Nonett“ explizit extrahiert und als einzelne Stücke platziert. Jede Miniatur ist ein Element für sich, eine geschlossene Einheit, ein kurzer Mikrokosmos, ein Satz, ein Block so schwer wie Blei.

 

„Do not“ beginnt mit einem karikaturistischen Ausruf, ein etwas deformierter und komischer Hahnenschrei, auf den dann plötzlich ein lauter, aber irgendwie aufgrund der Triller und des Tremolos seltsam wirkender Akkord folgt und mit einem Punkt, der einem Stolperstein gleicht, mit dem das Stück abrupt in der Stille endet. Es fällt so hin, wie es ist, unreif, ohne tiefere Sinnebene und lächerlich deplatziert. Die Komik ist ein Kernelement, welches einige der Miniaturen in sich tragen, so auch „Lead“, welche aus der Abwechslung von tiefer Fanfare aus Posaune und Kontrabass und schrillem Ausbruch, man denke an die Militärmusik mit ihren Trommeln und der Piccoloflöte entsteht. An das Ende setzte ich noch ein träumerisch, verklärtes Fragezeichen, ein einzelner hoher Ton von Sopran und Piccolo, kombiniert mit der ebenfalls assoziationsreichen Triangel. All das erinnert an meinen ersten Versuch, politische und historische Themen in meiner Musik aufzugreifen, an das „Orchesterstück I“ und die darin verarbeiteten Impulse durch die Musik der vergessenen Generation an Komponisten um den Zweiten Weltkrieg herum, wie Paul Dessau, Hanns Eisler und Walter Braunfels mit ihrer vom Blech dominierten und von stilistischer Vielfalt und Collagetechnik geprägten Musik.

 

Der nächste Satz „Powder“ ist dann eine weitere Hommage an einen Komponisten von sogenannter „Bekenntnismusik“, die sich klar politisch positionierte und Initiative ergriff, gegen die NS-Diktatur, im speziellen an die Oper „Simplicius Simplicissimus“ von Karl Amadeus Hartmann, welche mich in ihrer Intensivität und Musikalität sehr bewegt und ergriffen hatte. Die Neoklassizistische Strömung oder Erneuerungsbewegung, vor allem die von Hugo Distler, Ernst Pepping oder Johann Nepomuk David, entstand eben auch aus einer ganz klaren Vorstellung und Einstellung, die fest in ihrer Zeit und Gesellschaft verankert war, aus der Hoffnung auf eine Revolution durch die Anerkennung der alten Werte und Qualitäten, im Gegensatz zum aufgesetzt Neuen und oberflächlich Fortschrittlichen der modernen Kunstmusik. Da diese Tendenz aus der heutigen Zeit, da sie von manchen Komponisten erneut oder immer noch propagiert wird, einfach nur noch lustig und befremdlich, wie ein aus einem alten Museum entflohenes Kunstwerk, wirkt, dem ich aber dennoch große Wertschätzung, Respekt und Anerkennung entgegenbringe, habe ich ihr hier ein kleines Denkmal gesetzt. Trocken, stumpf, banal und naiv, dennoch mit vollem Ernst bei der Sache, spielen die Blasinstrumente (zwei Flöten, Oboe d’amore, Posaune) sowie der Kontrabass einen einfachen, auf einem starren und durchaus betontem ¾ Takt, Rhythmus oder Puls, man könnte ihn perfekt Mitklatschen, in einer Mixtur in unterschiedlichen Schichten, die sich nach und nach übereinander legen. Kurz und knapp, humorvoll und nett und gerade deshalb auch auf irgendeine Weise gefährlich und hochexplosiv. Denn eine rückwärts gewandte Ideologie, die auf Gemütlichkeit, Gefälligkeit und Gewohnheit aufbaut, birgt große Gefahren, wenn sie auch noch so dumm, langweilig und plump daherkommen mag.

 

„Is“ nimmt ästhetisch gesehen Bezug auf die punktuelle Musik, als Theorie einer Strömung oder Phase in der Geschichte der zeitgenössischen Musik, mit deren Gedanken ich mich zu Beginn meines Studiums sehr identifiziert habe, man denke an das Werk „Silence“, und dennoch mich nie mit dem Klang dieser Musik abfinden konnte. Einzelne Schreie, sinnlos aufeinander folgend, einander abbrechend, ins Wort fallend, überlagernd, nicht geordnet oder gemeinschaftlich vereint, sondern jedes Instrument für sich und gegen den anderen spielend, wild, kraftvoll, egozentrisch. Genau deshalb ist dieser Satz besonders schmerzhaft, aggressiv und rau, denn es gibt keine Gesten, es gibt nur einzelne Töne in extremen Registern, nichts ergibt einen Sinn, alle Bemühungen sind vergebens. Es geht um den Istzustand, das Jetzt, das Sein, gerade auch in der Gesellschaft 2018 die geprägt ist von Grüppchenbildungen, menschlicher Isolation und Entfremdung durch soziale Netzwerke und einer unendlichen Egomanie im Streben nach Selbstverwirklichung und Erfolg. Man lebt nicht gemeinsam, man ist nicht sozial, man ist nicht mehr optimistisch oder idealistisch, man ist einfach nur da und schreit, ohne was zu sagen, brüllt, wie die Sängerin mit ihrem Handvibrato, dem Indianderschrei.

 

Es folgen die zwei größeren Schlusssätze, in denen ich nun explizit auf meine Ästhetik und meine persönlichen Ideen- und Gedankenwelten eingehe. In „Print“ geht es um die Versuche und Konzepte einer modernen Poesie und Literatur, die konkret an den Lauten der Sprache orientiert ist und an den klaren und präzisen Strukturen von Grammatik und Komposition, wodurch auch die Wahl des Ensembles hier auf die drei Schlagzeuger und die quasi solistische Sopranistin fiel. Eine moderne Arie, ohne zusammenhängenden Text, ohne Melodielinien des Belcanto, ohne die expressive Effekthascherei des traditionellen Liedes. Dietmar Dath und Barbara Kirchners „Der Implex“ über sozialen Fortschritt, in der sie völlig unvoreingenommen und frei von Ideologien neue Strategien zum Umgang mit der Gesellschaft und Politik entwerfen und aufzeigen, gab mir die Kraft dazu, eben diesen kühlen und abstrakten Satz zu schreiben, der dennoch gefüllt ist mit Intimität und der Liebe für den Gesang und die Stimme.

 

Mit „Vanish“ verklingt und endet die kleine Sammlung an Miniaturen. Es geht hin zur Stille, zum Schweigen, zum Rauschen. Die Vergänglichkeit tritt in den Mittelpunkt und die Faszination für die unscheinbaren Dinge, die kleinen Details und Fragmente, welche uns daran erinnern, dass es mehr gibt, als nur Ruinen, Erinnerungen und Narben, nämlich auch neue Hoffnungen und Träume. Dieser Satz bin ich, so wie ich fühle und denke, ich liebe das Rauschen, ich sehne mich danach, schweigen zu können und ich träume davon, dass Stille möglich sein wird, dass sich unsere Welt verändern und verbessern wird zum Guten.

 

In all diesen Miniaturen ist auch eine Grundhaltung ständig mitgedacht, die mich seit meinen frühen Arbeiten begleitet und zeitweise, von ästhetischen Fragestellungen abgesehen, meine künstlerischen und kompositorischen Entscheidungen maßgeblich beeinflusste und eingrenzte: die Antivirtuosität. Eine Anti-Haltung ist nicht selten in der zeitgenössischen Kunst und auch nicht in unserer Gesellschaft. Man positioniert sich aktiv gegen etwas, zeigt offen seine Abneigung dazu, fordert ein Umdenken und präsentiert andere Möglichkeiten, wie die Welt zu gestalten wäre. Vor allem die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts ist voll von radikalen Anti-Bewegungen, angefangen mit der Antikunst an sich, dem Dada, über Fluxus und Happening Bewegungen bis hin zur Konzeptkunst. Eine der führenden Gestalten und vor allen der vielfältigsten Künstler, tätig gewesen in fast allen Medien und Disziplinen, war Dieter Roth. Sein Fundus an Kunstformen reichte von Performance, auch in Formen von Radioveranstaltungen und Interviews, über seine Kunstbücher, über Musik und klanglichen Improvisationen, über Skulpturen aus fast allen Materialien, seine Bilder aus verwesenden und schimmelnden Lebensmitteln, bis hin zu seinen in manischer Masse entstandenen Zeichnungen. Allem gemein ist, die Ablehnung von Konventionen, von Kunstgattungen und Normen, von Erwartungshaltungen der Galeristen und Besuchern und vor allem die Ablehnung eines egozentrischen Künstlers, eines Stars oder Genies. Er ist Vorreiter des Dilettantismus, es geht ihm um die künstlerische Tätigkeit an sich, nicht um die Qualität oder eine aufgesetzte intellektuelle Tiefe. Seine Kunst ist zu tiefst antivirtuos, leider bin ich erst viel zu spät auf sie gestoßen, als meine Überlegungen zur Antivirtuosität schon ihren Höhepunkt hinter sich hatten.  

 

Antivirtuos, das heißt reduziert und konzentriert bis zum Gehtnichtmehr, das heißt, dass die Musiker wenig oder fast nichts zu spielen haben, dass es fast nichts zu hören gibt und sich auch fast nichts verändert (das „fast nichts“ ist hierbei entscheidend). Antivirtuos, das bedeutet einen sehr langsamen, zähen, bewusst ruhigen und undramatischen Umgang mit der Zeit, der eben auch anstrengend, mühevoll und fast schon unerträglich ist. Antivirtuos, das bedeutet, dass das Detail in den Mittelpunkt rückt, die feine Farbe, die kaum spürbare Veränderung, die sanfte Schattierung. Jeder Parameter ist bis ins kleinste Detail ausgeplant und festgelegt, hat eine ganz klare Eigenschaft und folgt seinen eigenen Prinzipien und Strukturen. Dadurch ist die Rücksicht der Musiker auf die Feinheiten, die Intonation, die winzigen Variationen essenziell und es wird ein extremes Maß an Präzision vorausgesetzt. Antivirtuos, das heißt, dass die Musik oder allgemein die Kunst extrem beschränkt und eingeschränkt ist, da verzichtet wird auf traditionelle Figuren, musikalische Affekte und Showeffekte, da das Werk unscheinbar und unaufdringlich ist und nur bei genauem Hinsehen sich voll und ganz ergreifen lässt, um dann völlig neuartige Perspektiven erscheinen zu lassen und zu eröffnen. Antivirtuos, das heißt, dass nichts kaschiert werden kann, alles sehr intim, roh, verletzlich, fragil und beinahe nackt ist, dass es nichts gibt, was Schutz, Fülle, Abdeckung oder Sicherheit liefert und somit ein Zwang entsteht, alles wichtig und ernst zunehmen und sich voll dem Stück hinzugeben, um es als Interpret und als Rezipient selbst auszufüllen. Antivirtuos, das heißt, dass jedes Instrument, jede Person und jeder Gegenstand, ja jedes einzelne Element eines Werks klare Rollen übernimmt, einen eindeutig definierten Charakter besitzt und von existenzieller Bedeutung ist. Es geht darum, dass es keine dominierende Mehrheit gibt und auch keinen egozentrischen Diktatoren, sondern die Minderheit als Vielheit der pluralistischen Wesen den Ton angibt. Denn jeder ist in einem antivirtuosen Werk gleichberechtig, bringt die gleichen Voraussetzungen mit, ist wertgeschätzt und auch mit seinem eigenen Soli bedacht, seiner Stimme, die er zu singen hat. Denn im Kern einer antivirtuosen Kunst und Musik stehen die Beziehungen, die Kommunikation von Menschen, wodurch Gemeinschaften entstehen. Der Austausch und die Verständigung der Musiker untereinander und dann, übertragen auf das Wechselspiel von klingender Musik und dem Hörer, sind das Entscheidende. Antivirtuose Musik muss aktiv erlebt werden, muss aktiv interpretiert und bereichert werden, sie fordert heraus zum Denken, Fühlen und Spielen, motiviert zur Offenheit, Neugierde und Freiheit. Antivirtuos, das heißt, pathetisch, polemisch und selbstkritisch zu sein, aufgrund der Radikalität in seinem Streben danach, Utopien zu verwirklichen, humanistische und altruistische Gedanken auszusprechen und dem Ideal einer sozialeren Gesellschaft und Zukunft näherzukommen. Antivirtuos sein, das bedeutet, die Brutalität und Härte auszuhalten, die Folter hinzunehmen, wenn die Gewohnheiten, Erwartungen und Gelüste nicht erfüllt werden, bereit zu sein, neu und anders zu denken und zu handeln und dabei respektvoll und feinfühlig zu bleiben.

 

All diese Gedanken kulminierten in meinem antivirtuosen Gitarrenkonzert „Solitaire“, der Komposition, in der ich, fast schon in Tradition einer Studie oder Etüde, einmal auf extrem radikale und kompromisslos nüchterne Art, all diese Thesen umgesetzt habe. Der Begriff solitaire stammt aus dem Französischen, wo er einsam, einsiedlerisch, weltfern und zurückgezogen bedeutet, was sich in der Gestalt als Solo-Konzert widerspiegelt, bei der ein Solist einem Ensemble gegenüber steht. Gleichzeitig bezieht sich solitaire auch auf den Solitär-Ring, in dessen Zentrum ein aus einem von sechs Kappen gehaltenem Diamanten angebracht ist und der als traditioneller Verlobungsring gilt, die Geliebte ist einmalig und unersetzlich. Und der dritte Aspekt bei der Titelwahl, war die Anspielung auf das Solitär Brettspiel, ein Spiel für eine Person, für Außenseiter und Einzelgänger, welches auf einem Brett mit 33 Feldern und mit 32 Spielsteinen gespielt wird.

 

„Solitaire“ ist ein sechsminütiges Quintett für Gitarre, Oboe, Klarinette in a, Violine und Cello. Betrachtet man die Form und Struktur des Werks, so fallen einem zunächst die deutlichen Proportionen und Muster auf, insbesondere auch die symmetrische Anlage. Die drei Techniken, der Konzentration auf klare Proportionen, des Spiels mit Mustern, Strukturen und Selbstähnlichkeiten auf Makro- und Mikroebene sowie der Symmetrie, angewendet auf verschiedene Parameter, liegen den meisten meiner Werke zur Grunde, wenn es um Formgebung und Dramaturgie geht. Da diese Verfahrensweisen helfen, den Zusammenhalt von einzelnen Blöcken zu stärken, gleichzeitig Brüche und Störungen provozieren und benötigen, um Spannung zu erzeugen und zuletzt eben dieser statischen und nichtlinearen Anlage dienlich sind, die meiner Ablehnung einer Hochpunktdramaturgie entstammt. Zudem eignet sich gerade dieses Werk aufgrund der Strenge im Umgang mit Planung und Regelsetzung und der explizit das Handwerk betonenden Auskomposition am besten für die Analyse meiner Gedanken und Ideen von Burtality in einem angewandten Rahmen innerhalb der Instrumentalmusik.

 

Das Stück lässt sich in drei Abschnitte gliedern, die dem ABA‘-Schema folgen. Dabei sind A und A‘ beide jeweils 122lang (bei dem, das gesamte Stück über gleichbleibendem Tempo 50) und der Abschnitt B 60, was einem Verhältnis von 2+1+2 entspricht, mit der kleinen Störung, dass A und A‘ um 2 zu lang sind. In der nächstkleinteiligeren Ebene sind Abschnitt A und A‘ aus jeweils 12 Teilen aufgebaut, die alle in etwa 10 lang sind, mit leichten Abweichungen bis hin zur Verkürzung auf 7 und zur Verlängerung auf 14. Die Dauern der Kleinteile sind in folgenden Häufigkeiten gestaltet: A [1x8, 3x9, 3x10, 4x11, 1x13] und in A‘ [1x7, 1x8, 3x9, 2x10, 3x11, 1x13, 1x14]. Dabei sind die Anzahlen symmetrisch angeordnet, mit der Vertauschung der Werte für 10 und 11 in A, um die festgelegte gesamte Dauer nicht zu unterschreiten. Zudem gibt es in A zwei Werte, die um mehr als 1­ vom Richtwert 10­ abweichen, in A‘ sind jedoch vier (also in der Gesamtzahl sechs) dieser auffälligen Veränderungen vorhanden. Der zentrale Teil B ist hingegen völlig Konsequent und strikt gleichförmig aufgebaut aus neun kleineren Abschnitten in der Anordnung 4+1+4  (inspiriert von der Form des Chanukkia) wobei die äußeren Abschnitte je 6 lang sind und der Innere 12, sich somit also eine Proportion von 24-12-24 ergibt, wieder im Verhältnis 2-1-2, nun auf niedrigerer Ebene. Bei all diesen Strukturen fällt die dominante Nutzung der Zahl fünf und ihrer Kleinteile auf, welche eben um eins abweicht von der Solitär-Zahl 6 und deshalb auf die Unvollkommenheit verweist und auf den fehlenden Teil, die Abwesenheit des letzten Elementes. Zählt man nun alle kleinen Formteile der Komposition zusammen, so kommt man auf 33 Abschnitte, 32, wenn der Innerste, die Spiegelachse, ausgelassen wird, die Zahlen aus dem Solitär-Brettspiel.

 

Die klare Ordnung setzt sich dann auch in den anderen und konkret musikalischen Parametern fort. Wie schon in Kapitel II erklärt, basiert das Stück auf einem Clusterklang um den Ton es. Dabei spielen die Begleitinstrumente in Abschnitt A und A‘ alle 24 Permutationen dieses viertönigen Akkordes (der zentrale Ton es bleibt der Gitarre vorenthalten), aufgeteilt auf zweimal 12, also ein Akkord auf jeden kleinen Formteil. In A setzt das Paar aus Violine und Cello immer vor dem Paar aus Klarinette und Oboe ein und sie beenden den ausgehaltenen Akkord gemeinsam, in A‘ erfolgt dies in umgekehrter Reihenfolge, die Abstände und Dauern sind dabei auch nach verschiedenen Mustern angelegt und mit leichten Störungen versehen, auf die nun aber nicht genauer eingegangen wird. In diesen ausgehaltenen Klang hinein spielt die Gitarre Repetitionen des es‘ bestehend auf Zahlenwerten, die das Vielfache von 3 (also die Hälfte von 6) sind, es gibt Rhythmen mit 3,6,9,12,15 und 18 Anschlägen. Auch bei den Repetitionen werden in A zweimal fremde Zahlenwerte eingebracht, mit 1 und 10 und in A‘ vier mit  4 (2x),7 und 10. Die genauen Rhythmen mit gleicher Anzahl an gezupften Tönen sind dabei freie Ableitungen voneinander. In A folgt nun in jedem kleinen Formteil auf den Akkord in den Begleitstimmen und die Repetition von es‘, in der Gitarre ein relativer Ton, aus einer Reihe aller zwölf Töne, als Flageolett gespielt. Erneut tritt nun eine Spiegelung auf , in A‘ geht der relative Ton dem Akkord und der Repetition voraus, die relativen Töne werden als Krebs und Umkehrung transponiert in die tiefe Lage gespielt.

 

Der mittlere Teil B ist als kontrastierendes Element eingebaut. In sich selbst wieder gegliedert in einer aba‘ Form, verlaufen die a-Abschnitte so, dass zunächst der Ton es von der Gitarre acht-, vier- und zweimal wiederholt wird und dazwischen die Begleitinstrumente kurze Punkte als Pizzicato und quasi Pizzicati spielen, in viertönigen Akkorden, die in ihrer Gesamtheit wieder alle zwölf Töne ergeben, mit einer Ausnahme in a, da hier der Ton a doppelt vorkommt und das c fehlt. Diese Punkte werden dabei in a und dann gespiegelt in a‘ in einer Rhythmik aus allen drei Umkehrungen der Werte 2+1+1 als Repetitionen präsentiert. Die Spiegelachse und der Mittelpunkt des Stücks sind dann in b erreicht, einem unisono es‘ in Violine und Cello, welches übergeblendet wird in ein es‘ der Oboe und Klarinette. Dieser fast magische Moment wird dadurch verstärkt, dass die Streicher con sord. spielen und auch die Holzbläser ihre Instrumente leicht abdämpfen und somit eine sehr dunkle und warme Klangfarbe entsteht. Generell sind die Farben dieser Komposition sehr deutlich, monochrom und bewusst ausgewählt. Die Begleitinstrumente haben, bis auf in B mit den eben erwähnten Veränderungen, ausschließlich in einem möglichst weißen und reinen Ton zu spielen, die Streicher in sul tasto. Der Solist, die Gitarre ist hingegen klanglich etwas flexibler und bekommt für jedes Register eine eigene Klangschattierung zugeteilt, vom Flageolett in der höchsten Lage, über das Flautando zu sul boca zu einem sul ponticello hin zu einem akzentuierten Sforzando mit Vibrato in der Tiefsten.

 

Bei aller Strenge dieser Anlage von „Solitaire“ sind auch einige Parameter flexibel gehandhabt, die dann die feinen Unterschiede erzeugen und der Komposition ihre Anspannung und Konzentration verleihen. So sind die dynamischen Entwicklungen der Akkorde und Repetitionen jedes Mal anders gestaltet, die Einsätze und Dauern der Elemente sind recht unterschiedlich voneinander und die genaue Rhythmik in den Repetitionen der Gitarre ist auch nie exakt zweimal gleich. Doch es bleibt dabei, dass dieses Stück den Höhepunkt meines strengen Ordnungs- und Organisationswillens bildet und eine wortwörtliche Umsetzung des Konzepts der Antivirtuosität ist. Ein Konzert muss nicht immer eine Zurschaustellung eines meisterhaften und geniegleichen Virtuosen sein, eine Orgie der Selbstdarstellung und Egomanie. Es kann auch leise und still sein, introvertiert und verschlossen, monoton und ohne die Absicht irgendetwas auszudrücken, dass außerhalb des Klanges liegt. Denn alle Komposition, Planung und Organisation diente letzten Endes nur dem einzigen Zweck, den Klang in den Mittelpunkt zu rücken, die Musik zu einem besonderen Erlebnis zu gestalten, die Schönheit des in dem Ton, in dem Akkord, in der Gesamtheit verborgen Liegenden ans Licht zu fördern. Hier treffen sich Purity, Clarity und Brutality um gemeinsam einen Weg zu gehen und sich zu vereinen in dem, was meine Ästhetik auszeichnet und ausmacht, in dem, was mir wichtig ist und wonach ich bei jedem Stück aufs Neue suchen möchte. Every block of stone has a statue inside it and it is the task of the sculptor to discover it.” (Michelangelo)