IV. Sprache

 

 

The sound of the language is where it all begins. The test of a sentence is, does it sound right? The basic elements of language are physical: the noise words make, the sounds and silences that make the rhythms marking their relationships. Both the meaning and the beauty of the writing depend on these sounds and rhythms.

(Ursula K. Le Guin)

 

 

 

Es fällt mir sehr schwer, dieses Kapitel richtig zu eröffnen. Gerade jetzt wollen mir die passenden Worte nicht einfallen, keine schöne und bildhafte Beschreibung oder Anekdote in den Sinn kommen, mit der ich in dieses Thema einleiten könnte. Ich habe mehrere Versuche ausgeschrieben, habe versucht, fantasievoll und kreativ zu werden. Denn dieses Kapitel ist das, auf welches ich mich am meisten gefreut habe, da es um etwas geht, für das ich tief in meinem Herzen brenne, das mich seit meiner frühesten Kindheit beschäftigt, bewegt und begeistert. Die Sprache und damit zusammenhängend das geschriebene, gesprochene und gesungene Wort begleiten mich schon von klein auf. Ich war immer ein Träumer, ein Mensch, der sich zurückgezogen hat in seine selbst geschaffene Welt. Eine Welt, die zum großen Teil aus Sprache bestand und dem kreativen Spiel mit ihr, die auf Büchern und Geschichten aufbaute und im nach innen gewandten Gesang, alleine in einem kleinen, geschlossenen Zimmer, ihren Höhepunkt fand.

 

Als ich jünger war stand für mich ganz klar fest, wie mein Leben eines Tages aussehen sollte und vor allem in einem war ich mir vollkommen sicher, ich würde Schriftsteller werden. Dass ich dann eines Tages einer anderen Kunst den Vorzug geben würde, war damals undenkbar gewesen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich mein Leben lang Geschichten erzählen, meine Träume und Fantasien mit anderen Menschen teilen und mit kreativen und ausdrucksvollen Gedichten Freude, Hoffnung und Liebe verbreiten würde. Aber bei einer genaueren Betrachtung und der Überwindung einer anfänglichen Verwirrung wird man schnell feststellen, dass der Weg von der Sprachkunst zur Klangkunst gar nicht so weit ist, dass sie sogar viele Überschneidungspunkte und gegenseitige Wechselwirkungen aufzeigen und dass die Ideen und Wünsche, welche ich als Kind hatte, mich noch heute begleiten. Denn ich erzähle immer noch, ich erschaffe neue, fremde und abenteuerliche Welten, basierend auf Sinneseindrücken und kunstvollen Erlebnissen. Und auch in meiner Musik spielen die humanistischen Ideen und das Bedürfnis nach einem Austausch und Kontakt mit dem Publikum eine wichtige Rolle. Sprache basiert auf dem Klang, sie ist ein Teil der Klangkunst und gleichzeitig ist sie so viel mehr, völlig souverän und autonom. Im selben Maße ist die Klangkunst geprägt von Rhetorik, narrativen Elementen und konkreter Komposition, den alles dominierenden Eigenschaften der Sprache. Deshalb möchte ich dieses Kapitel der Sprache widmen und aufzeigen, wie sie in meinem musikalischen Schaffen Einklang findet und gefunden hat.

 

Das konkrete Bedürfnis danach, Geschichten zu erzählen durch die Musik, in einem wortwörtlichen Verständnis des Narrativen, bestimmte alle meine Arbeiten vor Beginn des Studiums. Ich schrieb fast ausschließlich Programmmusik, Stücke, die an Balladen, Gedichten oder Dramen orientiert komponiert waren und deren Textinhalte ich dann im Stile einer Filmmusik ausdeutete. Als ich diese Tatsache mit dem Studienbeginn erkannte, wandte ich mich radikal davon ab, meine Musik auf Texte zu beziehen oder von diesen direkt beeinflussen zu lassen, um mich mehr absolut musikalischen Fragen zu widmen und neue Gedanken und Ideen zur Formgestaltung, Dramaturgie und Gesamtanlage einer Komposition zu entwickeln und zu entdecken. Dies ging so weit, dass ich anfing, Programmmusik vollständig abzulehnen, zumal diese selten in der neuen Musik und dann oftmals in kitschiger, verklärter und aufgesetzter Weise verwendet wird. Dies geschieht meist dann, wenn eine Geschichte, oder eben das Programm, als Vorwand und Entschuldigung verwendet wird, für mangelnde Kreativität, schlechte Komposition und langweilige Musik ohne jedweden Anspruch einer Charakterstärke. Sprache und Musik waren für mich zunächst einmal aus ganz persönlichen Gründen nicht mehr vereinbar. Ich kannte zu viele Arbeiten dieser Art, ich wusste, was an diesen schief gelaufen war und was ich ablehnte und ich fand keine Strategien und Lösungsansätze, um beide Bereiche auf erfrischende und sinnvolle Weise zu vereinen. Dies zeigt sich auch in dem Werk „Sentence“ für Sopran und Kassettenrekorder, welches auf einen Text verzichtet und nur auf Vokalsilbe gesungen wird, aus dem einfachen Grund, dass es mir schlichtweg nicht möglich war, für mich überzeugend eine neue Form des Liedgesangs zu entwickeln. Somit kapitulierte ich, bevor ich Gefahr lief, einen konventionellen, konservativen und pathetischen Umgang mit dem Liedtext und der Gesangsstimme zu verfallen.

 

Erst in meiner großen Orchesterkomposition „Châtaigne“ hatte ich den Mut dazu, wieder Programmmusik zu schreiben, jedoch völlig anders, als ich es in meinen Jugendjahren immerzu getan hatte. Inspiriert von einem Aphorismus des französisch-rumänischen Philosophen Emil Cioran suchte und gestaltete ich die Elemente und Materialien so aus, dass sich Bezüge zu den Worten des Textes und dessen Geschichte erstellen und finden lassen, jedoch gleichzeitig auf eine wortwörtliche Ausdeutung und eins zu eins Übersetzung der Handlung in einen musikalischen Ablauf verzichtet wurde. So entstand ein eigenständiges Werk, welches in allen Parametern seinen eigenen und in sich schlüssigen Regeln folgt und auch als abstrakte Musik ohne Verbindung mit dem Aphorismus Bestand hat und verstanden werden kann, weshalb ich im Programmtext auch nicht die Vorlage Ciorans abdrucken lies. Die Klänge und die Bedeutungen der Worte sind nur noch als zusätzliche Interpretations- und Deutungsebene vorhanden, sie sind nicht mehr als eine weitere Schicht an Assoziationen und Möglichkeiten, die von dem Hörer bewusst erlebt werden können, dabei jedoch stets unaufdringlich im Hintergrund versteckt bleiben. Dennoch geben sie der Komposition eine gewisse programmatische Grundlage, Grundfärbung und Grundhaltung.

 

„Als ich zu später Stunde in dieser baumgesäumten Allee spazierte, fiel eine Kastanie mir zu Füßen. Das Geräusch, mit dem sie zersprang, das Echo, das es in mir weckte, und eine Ergriffenheit, die zu einem so winzigen Zwischenfall in keinem Verhältnis stand, tauchten mich ins Wunder, in die Trunkenheit des Endgültigen, als gäbe es keine Fragen mehr, nur noch Antworten. Ich war trunken von tausend unerwarteten Evidenzen, mit denen ich nichts anzufangen wusste … So rührte ich beinahe an das Äußerste. Doch hielt ich es für geraten, meinen Spaziergang fortzusetzen.“ (Emil Cioran).

 

Das wohl auffälligste Symbol, welches ich aus dem Aphorismus in mein Stück übertragen habe, ist das, der fallenden und dabei zerspringenden Kastanie. Zunächst einmal ist dieses Wort, im französischen Châtaigne, zum Titel geworden, nicht nur, wegen seiner metaphorischen Bedeutung, sondern vor allem auch, wegen seiner sinnlichen Aussprache, dieser wohlklingenden Vokalfolge und leichten Rhythmik. Musikalisch findet es an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Ausdeutungen Anklang in meiner Komposition. So schon gleich zu Beginn, wenn die Pauke ihre kurzen, gedämpften dead strokes mit einem slap mallet spielt, unregelmäßige und unberechenbare, dunkle Punkte, die eine Übertragung des natürlichen Geräuschs einer, auf einem Stein oder Weg aufschlagenden, Kastanie in musikalische Parameter ist. Diese akzentuierten Punkte kehren dann in einer ins Sinnliche transformierten Form wieder, die nicht mehr den realen Klang des Aufschlagens einer Kastanie zum Vorbild, sondern den verklärten Klang, wie ihn der spazierende Künstler in seiner Wahrnehmung erlebt, golden, klar und erhaben, aufgreift. Deshalb sind sie nun auch nicht mehr trocken und pochend, sondern mit einem deutlichen Anschlag durch die Glocke auf b‘, welcher dann in verschiedenen Instrumentalmischungen ausgehalten wird und in einem somit geweitetem Raum nach- und langsam verklingt, übergeht in die nächsten Farben. Um nur ein Beispiel zu nennen, wäre dies in Takt 12 die Kombination von Röhrenglocke mit ausklingender Oboe d’amore, Trompete mit cup mute und Celli sul ponticello und aus dem Nichts erscheinender, überblendender und weiterführender, Klarinette mit den Celli con sord.

 

Die Rhythmik und Struktur des Fallens, vom Akzent des Aufpralls, über ein chaotisches Zittern zu sich langsam beruhigenden Fragmenten bis hin zur Stille, wurde zu einem zentralen Muster in der rhythmischen Gestaltung von Melodiebögen und Einwürfen. Am deutlichsten wird dies in den solistischen Ausbrüchen von Wood und Temple Blocks im hinteren Teil der Komposition, zwischen den wiederkehrenden, lauten, im Tutti gespielten Weltschmerz-Akkorden. Diese energetischen, kraftvollen und archaisch klingenden, da nur auf Holzperkussionsinstrumenten gespielten, Elemente zeichnen sich durch ihre natürliche, organische, flexible und bewegliche Rhythmik aus, die von dem Fallen und Aufschlagen auf dem Boden einer Kastanie inspiriert wurden. So beginnen sie stets mit einem schnellen und virtuosem Kopfteil, die in Tremolos münden, dann immer wieder in fragmentarischer und nachspringender Form weiterführen bis sie in einzelnen kurzen Punkten und kleinen Gruppen aus Punkten umgeben von Stille versiegen.

 

Im vorhergehenden Kapitel wurden schon die Weltschmerz-Akkorde erwähnt und beschrieben, sie finden auch ihren Ausgang in dem Aphorismus von Emil Cioran, oder genauer gesagt, in dem den Aphorismus umgebenden Umfeld, nämlich der Sammlung kurzer Texte Ciorans in seinem zu tiefst nihilistischen, depressiven und negativen Buch „Vom Nachteil geboren zu sein“. Die düstere und pessimistische Grundhaltung Ciorans entstammt eben aus einem Frust über das Leben, über die Welt und die Menschheit an sich und dem damit verbundenen Leiden, sinnlosen Kämpfen und schmerzlichen Scheitern. Cioran ist auf einem Spaziergang, ausgelöst durch den Weltschmerz, der immer wieder in den lauten Ohnmachtsanfällen des gesamten Orchesters auftritt und die fortschreitende Bewegung und Ansammlung schrittweise abfolgender Gedanken, die solch ein Flanieren charakterisieren, wurden zur die Komposition strukturierenden und formal bestimmenden Entität.

 

Auch die gesamte Aura, die Grundfärbung der Komposition, ist inspiriert von der Grundstimmung, die die Worte Ciorans ausdrücken. Ich hatte im Zuge der Entstehung dieser Arbeit zunächst über mehrere Monate hinweg Instrumentationen gesammelt und sortiert, die für mich klanglich diese Aura widerspiegeln, die ich zu repräsentieren versucht habe. Dafür habe ich auch zurückgegriffen auf eher untypische oder nicht so häufig verwendete Instrumente in der Besetzung eines sinfonischen Orchesters, wie die Oboe d’amore, Kontrabassklarinette und das Flügelhorn. Eine Verwendung des Euphoniums war leider aus ökonomischen Gründen nicht möglich. So stand mir eine breite Palette an Instrumentalfarben und vielfältig abgestuften Kombinationen zur Verfügung, die der dunklen, erdigen, natürlichen und abendlichen Stimmung des Aphorismus entsprachen und auf die ich frei und kreativ zurückgreifen konnte.

 

All diese Strategien zeigen, wie ich mit der Thematik der Programmmusik umgegangen bin, wie Worte und Sätze, teils sehr offensichtlich und wörtlich, in die Musik übertragen wurden, wie ich mich andererseits sehr subjektiv und persönlich von der Grundstimmung habe leiten lassen und wie subtil und fein die Beeinflussung durch die Sprache auch sein konnte. Die wohl unauffälligste, aber für mich reizvollste Art des Umgangs mit dem, der Arbeit zugrunde liegenden, Textes, war jedoch die Übertragung des Sprachrhythmus der französischen Originalversion in konkrete Rhythmen der Komposition. Der Rhythmus ist der wichtigste und aussagekräftigste Parameter, sowohl in der Musik als auch in der Sprache, wenn es um die Verständlichkeit, motivische Gestalt und logische Struktur eines Satzes geht. Am Rhythmus erkennt man, ob der Satz richtig ist, durch ihn werden Worte und Sätze wiedererkennbar, er strukturiert die Zeit, er kodifiziert den Inhalt. Die Tonhöhe und der Klang an sich sind nur die Farbe, der Rhythmus formt daraus die Sprache oder die Musik.

 

Und dieses Prinzip der Sprachrhythmik übertrug ich nun in rhythmische Figuren von „Châtaigne“. Diese Technik ist inspiriert von der Sonifikation, der Darstellung von Daten in Klängen, der Übertragung von konkreten Informationen in musikalische Parameter, wie sie sich in Arbeiten von Peter Ablinger oder Luis Antunes Pena finden lassen. Dafür lies ich mir von einem französischen Freund den ersten Satz des Aphorismus in drei verschiedenen Tempi vorsprechen, um dann von diesen Sprachbeispielen die Rhythmen zu transkribieren. Auf die Klangsilben si, sa und se geflüstert kehren zwei dieser Rhythmen dann in der rauschenden Fläche zu Beginn der Komposition wieder, der Dritte ist komplett von der Sprache getrennt und wird von den Temple Blocks in einem späteren Formteil an sehr exponierter Stelle vorgetragen. So ist nicht nur die inhaltliche Aussage des Aphorismus in der Komposition verankert, sondern auch ganz abstrakt der rhythmische Code, die DNA der Sprache. Generell begeistert mich Sprachrhythmik mit ihren verschiedenen Beschleunigungen, Verzerrungen, Betonungen und Binnenmotiven und ist schon in früheren Kompositionen inspirierend gewesen für die Gestaltungen meiner Rhythmen. Diese direkte Übertragung von Sprache in Musik findet sich jedoch erst in der Komposition „Nonett I“ wieder, in welcher ebenfalls konkrete Sprachrhythmen des Texts von Karl Marx in die Schlagzeugrhythmen übertragen wurden. Dabei handelt es sich um den Satz „Vanish“ und erneut erklingen diese Rhythmen in Holzperkussionsinstrumenten, auf Temple und Woodblock sowie auf der Mokusho. „Vanish“ ist der persönlichste und intimste Satz des Stücks, der mit seiner Konzentration und Fokussierung auf den Klang des Rauschens und direkten Verbindung von Musik und Sprache genau die beiden Elemente anspricht, die meine Persönlichkeit ausmachen.

 

Sprache ist eng verbunden mit der Schrift. Wir bedienen uns eines Alphabets oder eines Vorrats von Zeichen, um festzuhalten und aufzuschreiben, was gelesen und gesprochen werden soll. Schrift besteht aus Linien, aus einzelnen miteinander verbundenen Strichen. Zum ersten Mal habe ich intensiv über die Regeln, Grundlagen und Funktion von Schrift nachgedacht, als ich einen Intensivkurs in Chinesisch belegte und dadurch in Kontakt mit der chinesischen Zeichenschrift und damit verbunden auch mit der Kunst der Kalligrafie kam. Die Schönschrift spielt auch in unserer westlichen Tradition eine große Rolle, man denke nur an kunstvoll gestaltete Handschriften, die Verwendung von Wörtern in Emblemen und Signets sowie an die schmuckvollen Initialen alter Druckausgaben und Bücher. Die Kalligrafie als eigene Kunstform mit hohem gesellschaftlichem Stellenwert, so wie sie in China oder Japan gelebt und praktiziert wird, kennt man in der westlichen Welt jedoch nur noch kaum. Im Zusammenhang mit meinen „Duo IV für Charles Koechlin“, in welchem ich mich tief greifend in die Möglichkeiten von Melodieführung und Liniengestaltung eingearbeitet habe, entstanden dann auch eine Serie von Zeichnungen. Meine „49 Duos in Ink“, gezeichnet während meines Studienaufenthalts in Tallinn, sind 49 Zeichnungen im A6 Format von stets zwei Linien in blauer Tinte, welche jeweils zweimal nachgezeichnet wurden, sich also dreimal fast identisch überlagern, auf einem sonst völlig weißen Blatt Papier. Mit der klaren Konzentration auf zwei durchgehende Striche, tritt in diesen Zeichnungen die Energie der Bewegungen, durch Krümmung, Richtung und Weiterführung und das Wechselspiel der beiden Linien, durch Annäherung, Entfernung, Kreuzung und Polarisierung in den Mittelpunkt. Auf kleinstem Raum entsteht so ein intimes und feines Spiel der Kräfte und Potenziale, die organischen Linien werden lebendig und pulsierend, man kann als Betrachter die Wege nachvollziehen, welche der Füllfederhalter durch die Hand auf dem leichten Papier gegangen oder getanzt ist.

 

Durch diese künstlerischen Studien angeregt, war es mir ein großes Anliegen, die dort ausprobierten Techniken in die Musik zu übertragen, zudem ich im selben Zeitraum auch in Kontakt kam mit den Werken und Gedanken des französischen Komponisten Charles Koechlin. Dieser, eher im Schatten von Debussy und Ravel stehende, Komponist des späten Impressionismus und der frühen Moderne ist einer der produktivsten und handwerklich filigransten und inspirierendsten Komponisten seiner Zeit. Seine Werke bauen auf einem großen Komplex musiktheoretischer Studien auf, so schrieb er mehrere Bücher über die Instrumentation, Harmonielehre und Musiktheorie. Der zentrale Kerngedanke seines Schaffens ist die „art monodique“, das Komponieren, in welchem die einzelne, monodisch, melodische Linie in den Mittelpunkt gerückt wird. Seine beeindruckenden und vielfältigen Orchesterwerke sind nicht nur Meisterwerke der Instrumentation, sondern gerade auch in Sachen Melodieführung und Reduktion großer Orchestersätze auf schlichte und wohlbedachte Bewegungen und Schichtungen von monodischen Gesängen kombiniert mit leichtem Kontrapunkt und freien Außenstimmen, einzigartig.

 

In der chinesischen Schrift gibt es sechs zentrale Stricharten, welche sich musikalisch repräsentieren lassen und den Melodien meines „Duo IV“ für Klarinette und Flöte zugrunde liegen. Diese sind: héng, der waagerechte Strich von links nach rechts, dargestellt durch den Orgelpunkt und lang gehaltene Töne; shù, der senkrechte Strich von oben nach unten geschrieben, dargestellt durch eine um einen Mittelpunkt gespiegelte Mixtur im rhythmischen Unisono und somit vertikale Anordnung der Linien (als Intervall); tí, der nach rechts oben ansteigende Strich, als aufsteigende Linie in der Melodie, dem zentralen Kernmotiv der Komposition; piě, der nach links unten gezogene Strich, so wie nà, als nach rechts unten gezogener Strich, welche im Duo vereint und nicht deutlich getrennt dargestellt werden, stattdessen generell die absteigende Melodien charakterisieren,  welche jedoch mehr in Wellenformen übergehen, mit tendenzieller Abwärtsrichtung; die letzte Strichart ist diǎn, der sehr kurze Strich, oder Punkt, welcher in der Musik repräsentiert wird durch schnelle und kurze virtuose Fragmente und einzelne Staccati. Zusätzlich zu diesen, der chinesischen Kalligrafie entlehnten Elementen, habe ich in Anlehnung an Charles Koechlin und seine Vorliebe für Choräle, noch den Choral als schreitende und schrittweise Bewegung hinzugefügt, welcher aus im rhythmischen und Tonhöhenunisono gespielten Abfolgen von Tönen besteht, und der immer wieder als Ziel der langen Linien und Vereinigung beider Stimmen und Instrumente zum Einklang eingesetzt wird. Im Choral findet die Monodie ihre höchste Verwirklichung und Erfüllung, so wie in meinen Tintenzeichnungen, bei denen durch Überlagerung einzelner Stimmen zu einer Einheit und einer Linie, etwas Tieferes und Bewegendes entsteht, eine dem Unisono immanente Eigenschaft.

 

Das Duo ist zu einer meiner wichtigsten und liebsten Gattungen geworden. Allein 2017 habe ich drei Duos geschrieben und mich mit dieser Form über einen langen Zeitraum hinweg und von verschiedenen Perspektiven aus beschäftigt. Zwei Musiker, zwei Stimmen, zwei Linien. Die Dualität und Zweiheit ist das entscheidende, das Verhältnis zwischen zwei Wesen das, was diese Kammermusik so spannend und vielfältig macht. Es geht vor allem um die Kommunikation, den Austausch, die Berührung und die gegenseitige Beeinflussung von zwei Menschen. Sprache dient der Mitteilung von Bedürfnissen, der Verständigung von Zweien und dem Ausdruck von Zuneigung und Zuwendung. All dies kann auch musikalisch dargestellt werden, letzten Endes hat Musik dieselben Absichten und Ziele, sie will eine Verbindung herstellen zwischen Produzenten und Rezipienten, will einen Austausch von Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen ermöglichen und will durch Strukturen, Grammatik und Formgebung erzählen und zur Sprache werden. Ebenso, wie die Sprache durch Wortspiele, Betonungen und Verzierungen in der Aussprache und dem Klang der einzelnen Wörter und Sätze zur Musik wird.

 

Für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen, die Welt um einen herum verschwindet, man ist völlig enthoben und verwandelt, man ist umgeben von Wärme, Geborgenheit und Zärtlichkeit. So ähnlich kann sich die Intimität zweier Menschen anfühlen. Sie ist persönlich, authentisch, direkt, ohne jeden Kitsch oder aufgesetzten Pathos, sie ist fragil, unstet und immer von der Zweisamkeit abhängig. Das Unisono, die gemeinsame Melodie, der vereinte Gesang, welcher daraus entstehen kann, ist das, wonach wir uns sehnen, wovon wir träumen und wovon wir strahlende und leuchtende Augen bekommen. Eben diese Erlebnisse und Gefühle sind es, die ich in meinen Duos erzeugen möchte. Diese feinen Momente, wenn sich zwei Menschen tief in die Augen blicken und es so scheint, als seien sie eins. Diese seltenen Momente, die immer umgeben und konfrontiert werden von Streit, Brutalität, Verletzungen, Zweifeln und Fremdheit. Es ist ein sensibles Wechselspiel, die Berührung zweier Menschen, die Kommunikation im weitesten Sinne.

 

„Duo III für Emil Cioran“ war das erste Stück, in welchem ich einen Text für eine Gesangstimme verwendet habe und es ist gleichzeitig das wohl persönlichste und intensivste Duo geworden, das ich komponiert habe. Entstanden in den letzten zwei Wochen meiner Zeit in Tallinn und vollendet nach meiner Rückkehr nach Lübeck. Emil Ciorans Texte haben mehrere meiner Werke beeinflusst, wie schon am Beispiel von „Châtaigne“ dargestellt wurde, einen seiner Aphorismen habe ich jedoch bisher nur einmal vertont. Ich war in Tallinn auf mich allein gestellt, zum ersten Mal in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht sprach, dessen Kultur ich nicht kannte und dessen Menschen ich nicht verstand. Estland ist ein kaltes Land, die Winter sind hart, die Lebensverhältnisse schwierig und der Schatten der Erinnerung an die Herrschaft der Sowjetunion hängt noch immer zwischen den heruntergekommenen, grauen Plattenbauten und Monumenten aus Beton. Deshalb sind die meisten Esten eher zurückgezogen und verschlossen, öffnen sich nur ungern Fremden, sprechen sie nicht an und versuchen längeren Gesprächen auszuweichen. Ich verbrachte die meisten Stunden der Tage entweder in meinem Zimmer, wo ich viel zeichnete und skizzierte oder in der Bibliothek und den Räumen des Konservatoriums, um dort zu lesen, Noten zu analysieren oder über mich und meine Arbeit nachzudenken. Die Stille und Abgeschiedenheit, in der ich lebte, war wichtig für mich und meine Entwicklung, denn sie gab mir die Gelegenheit, einmal wirklich intensiv an mir zu arbeiten und mich selbst zu studieren, um zu erkennen, wer ich bin, was ich will und wie ich leben möchte.

 

Der Gesang hat mir in dieser Zeit geholfen, ich habe viel gesungen in Estland. Nicht nur im Einzelunterricht für Chorleitung und in dem bewegenden Unterricht in Partiturspiel von Silvia Landra, sondern auch in zwei Chören. Zum einen im Chor der Hochschule unter Tõnu Kaljuste, durch welchen ich meine einzigen Kontakte mit anderen, vor allem internationalen, Studenten an der Hochschule knüpfte, zum anderen in dem neu gegründetem Kammerchor „Helios“ unter einem guten Freund, mit dem ich regelmäßige Gespräche beim Mittagessen in der Kantine führte, Lodewijk van der Ree, der sich auf Musik des letzten Jahrhunderts spezialisiert hatte, was mein Repertoire, vor allem auch um einige Stücke estnischer Komponisten, deutlich erweiterte. So kam es, dass ich viel über die Stimme und den Gesang in Erfahrung brachte und mir nach und nach auch Ideen kamen, wie ich endlich die Hürde nehmen könnte, eigene Stücke mit Text und Sänger zu verwirklichen.

 

Zwar war ich viel alleine in Tallinn, hatte aber dennoch das Glück und die Freude, dass mich viermal gute Freunde und meine Familie besuchten und mit mir Zeit verbrachten. Einer dieser Besuche, der Erste von ihnen, nach zweimonatiger Abgeschiedenheit im grauen Winter Tallinns, eines langjährigen Freundes wurde schließlich zum Auslöser der Komposition von „Duo III“. Denn, durch die gemeinsamen Tage, langen Spaziergänge und freundschaftlichen Gespräche zu tiefst bewegt und aufgewühlt las ich damals in einer Nacht zum ersten Mal das Buch „Vom Nachteil geboren zu sein“ von Emil Cioran, wobei mir ein Aphorismus sofort ins Auge viel und sich in mein Gedächtnis einbrannte. Mir war schon in dieser Nacht klar, dass ich daraus ein Stück komponieren würde. Ein Stück, in welchem ich all meine Gefühle und Gedanken zur Freundschaft, zur tiefen Verbundenheit mit einem anderen Menschen und zur Verwandlung eines Augenblicks durch die Berührung zweier Wesen, zum Ausdruck bringen würde. Zwei Monate später, erneut mitten in einer Nacht, um drei Uhr morgens, wachte ich dann auf und hatte, wie so oft in Tallinn, starkes Nasenbluten. Als sich dieses nach langem Warten beruhigt hatte, kamen mir plötzlich die gesamte Struktur, die Kernrhythmen und Motive und die Inszenierung des Duos für Gitarre und Bariton in den Sinn. Nicht einmal zwei Wochen später war das Stück, für den Abschluss des befreundeten Sängers Erwan Tacher, so gut wie vollendet.

 

"Der wahre Kontakt zwischen zwei Menschen stellt sich nur durch die stumme Gegenwart her, durch den Anschein einer Nicht-Kommunikation, durch jenen geheimnisvollen wortlosen Austausch, der einem inneren Gebet entspricht." (Emil Cioran).

 

Den Moment festhalten, keine Kunst beschäftigt sich mehr mit dieser Thematik, als die Fotografie. Fotografie ist eine der scheinbar realsten Kunstformen, man erwartet von ihr dokumentarische Treue, Authentizität und Echtheit, sie soll einen Augenblick so fixieren, wie er ist, wie man ihn gefühlt und erlebt hat. Hier kommt schon die erste Schwierigkeit dieser Ansicht von Fotografie zum Vorschein, die Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung eines Erlebnisses und dessen Realitätsanspruchs. Denn die großen Fotografen sind eben nicht reine Dokumentare, welche Informationen und Daten fixieren und sortieren, sondern sie sind Künstler. Sie spielen durch ihre Fotos mit der Illusion von Realität und Fiktion, durch das feine Wechselspiel von Fantasie und Wirklichkeit, sie erschaffen imaginative Theater. Dieser Begriff des imaginativen Theaters hat mich über den Großteil meines Semesters in Tallinn, angeregt durch die Performance von Iggy Lond Malmborg „Physics and Phantasma“, über welche ich einen eigenen Essay abgefasst habe, beschäftigt.

 

Es geht dabei darum, dass man zwar Dinge sieht, Dinge hört, Dinge fühlt, jedoch vielmehr auf das hingewiesen wird und das erlebt, was eben nicht präsent ist, was der Vergangenheit angehört, was nur in unserer Fantasie existiert. Edward Hopper ist ein Meister dieser Technik gewesen. Seine Gemälde zeigen Räume und Menschen, die stets gefüllt sind mit der Abwesenheit. Da sind leere Räume, die verlassen sind und verwahrlosen, da sind regungslose und ohnmächtige Menschen, deren Lebensgeschichten und vorhergegangenen Erlebnisse wir sehnsüchtig suchen, jedoch nur auf die Spekulationen unserer Empathie angewiesen sind. Die stärksten Kunstwerke sind die, die der Fantasie des Betrachters die größte Vielfalt an Spekulationen und Breite an Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Betrachtet man die Fotografien William Egglestons, so sieht man nur die Überreste, Ruinen und Bruchstücke der amerikanischen Gesellschaft und des dortigen way of life; in den Arbeiten von Henri Cartier-Bresson oder André Kertész blickt man auf fein und bis ins kleinste Detail inszenierte Bilder, die gefüllt sind mit Geschichten, Symbolen und theatralischer Stärke durch subtile Distanz; die persönlichen und familiären Augenblicke festgehalten im zarten und intimen Werk von Sally Mann leben gerade von diesem fragilen und nackten Moment einer menschlichen Berührung, Bewegung und Körperlichkeit.

 

Starke Bilder sind in meinem Kopf, wenn ich den Aphorismus von Cioran lese. Bilder von Erinnerungen an die schönsten Zeiten in meinem Leben, vergessenen und verlorenen Träumen und Hoffnungen, sowie unbefriedigten Sehnsüchten im Anblick der Endlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge und Wesen. Starke Bilder, aber ebenso auch der Klang der geliebten Stimme, der Duft, der die Person umgibt, die Bewegungen ihres Körpers und der Hände; Sinnlichkeit; Imaginatives Theater. All das möchte ich in meinem „Duo III“ festhalten, ich möchte diese Stimmung mit dem Hörer teilen, ich möchte ihm Einblick geben in das, was mich bewegt und beschäftigt. Es klingt pathetisch, kitschig und pseudoromantisch, aber es ist, was mir damals in der Zeit des Abschieds von Tallinn nachts den Schlaf geraubt hat und dazu gezwungen hat in einer manischen Obsession das Stück auszuschreiben.

 

Wenn ich nun die wichtigsten Techniken, Strategien und Überlegung zur Komposition des „Duos III“ aufzeige und analysiere, geschieht dies im Vergleich mit meinem ein Jahr später entstandenen „Quintett II“. Für dieses Stück für Sopran, zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger, habe ich zum ersten Mal ein eigenes Gedicht als Textgrundlage genommen, wodurch noch einmal eine andere Intensivität und Emotionalität in die Gestaltung der Musik mit eingeflossen ist. Beide Werke sind charakteristisch für meinen derzeitigen Umgang mit Sängern und der Verwendung von Text im Zusammenhang mit Musik.

 

Beide Stücke könnten der Gattung des Liedes zugeschrieben werden. Eine Gattung, die eine lange Geschichte und Entwicklung mit sich bringt und die im Laufe der Jahre einige Normen und Erwartungshaltungen herausbildete. Weshalb ich die Stücke auch zunächst weniger als konventionelle Lieder betrachte, denn als kammermusikalische Werke für instrumentale Ensembles mit Sängern, die ebenfalls teils instrumental eingesetzt werden, auf der anderen Seite aber eben auch einen Text präsentieren und vokaltechnische Elemente und Gegenpole der Instrumentalmusik beifügen. Außerdem komponierte ich beide Stücke in Anlehnung an konkrete historische Formen. So ist das Duo angelehnt und inspiriert von dem Chanson, sowohl dem französischen mit seiner Theatralik und dem Klang der französischen Sprache, als auch dem deutschen mit seiner eher reduzierten Schlichtheit und introvertierten Haltung, wie sie zum Beispiel bei Reinhard Mey zu finden ist. Das „Quintett II“ hingegen ist explizit inspiriert von dem Consort Song, einer bedeutenden Gattung der englischen Musik im Elisabethanischen Zeitalter, für die vor allem William Byrd berühmt geworden ist. Für mich hatten diese beiden Gattungen am Beginn meiner Überlegungen zur Komposition gestanden. Ich hatte jedoch nicht die Absicht, diese traditionellen Formen in der Art einer Stilkopie nachzuahmen, sondern es ging mir vorrangig darum, eine neue Betrachtung auf die alte Gattung vorzunehmen, diese persönlich zu interpretieren und auszugestalten und somit eine moderne und eigenständige Form aus dem Vorbild heraus zu entwickeln.

 

Entscheidend für den Chanson ist, dass der Text im Mittelpunkt steht und die klare und einfache Form strukturiert. Ebenfalls war für mich die Entscheidung zur Besetzung von Gitarre und Bariton gerade im Hinblick auf Künstler wie Georges Brassens und Reinhard Mey gefallen, da dieses Duo eine sehr direkte und nahe Intimität erzeugt, dadurch, dass nur diese zwei Musiker auf der Bühne stehen, beim Chanson ja zudem noch oft in kleinen Räumen und direkt in greifbarer Nähe zum Publikum. Und zuletzt war mir der Gesangsstil des Chansons sehr wichtig, der eher an der Sprache orientiert ist, als am klassischen Belcanto Gesang mit schwerem Vibrato und fülligem Volumen und eine leichte und unaufdringliche Stimme bevorzugt. 

 

Meine Überlegungen zu einer Neuentwicklung des Consort Songs wurden ausgelöst durch den Roman „Die göttliche Invasion“ von Philip K. Dick, in welchem dem Air „Flow my tears“ von John Dowland eine große symbolische Bedeutung zukommt. Dieses Lied wiederum ist fest verbunden mit den sieben Pavanen für fünf Violen und Laute, den „Lachrimae“, welche Variationen von der Melodie des Lautenlieds „Flow my tears“ sind. Hier trifft sich also das Consort Ensemble, meist als Quartett oder Quintett, mit dem Lied, so wie in meinem „Quintett II“, auch in der Zahl der agierenden Musikern inspiriert von der historischen Vorlage, dieses Wechselspiel von instrumentalem und vokalem Gesang im Mittelpunkt steht. Zudem war die Idee von Figuren zur Erzeugung bestimmter Affekte, wie sie im Übergang von Renaissance zum Frühbarock entscheidend war, für mich bedeutsam in der Gestaltung meiner Melodien, Motive und Gesten.

 

Aus dem Text ergibt sich die Form. Für beide Stücke bedeutete dies, eine dreiteilige Anlage der Art ABC, beziehungsweise im „Quintett II“ auch zu deuten als ABA‘, die den drei Strophen des Gedichts entspricht. Das Duo III beginnt mit dem Abschnitt „Le vrai contact entre les êtres ne s’établit que" wobei dieses Fragment in drei Stufen aufgebaut wird:„le vrai“, „le vrai contact entres les êtres ne" bis hin zum vollständigen Satz. Darauf folgt eine Überleitung, die aus der Verbindung von Anfang und Ende zu einem „le vrai que" besteht. Zwischen diesen vier a-Teilen sind nun drei b-Abschnitte gesetzt, welche aus Verkürzungen des zentralen Wortes „vrai" gebildet werden, das „Wahre" zerfällt sozusagen immer mehr, degeneriert und entfremdet sich. Immer als kurze und kürzer werdende Punkte gesungen wird aus „vrai" zunächst „ai" und schließlich „i", umgeben von viel Stille und ebenfalls vereinzelten Flageolettpunkten oder Akkorden in der Gitarre.

 

Der Formteil B des Duos rückt nun die Auflistung der drei Möglichkeiten eines wahren Kontakts zwischen zwei Menschen in den Mittelpunkt, die jeweils durch das „par" (übersetzt in etwa „durch") eingeleitet werden. Somit ergibt sich auch hier wieder eine dreiteilige Binnenform, der Art abc. a basiert auf dem Abschnitt „par la présence muette" („durch die stumme Gegenwart") und ist dadurch charakterisiert, dass der Bariton bis auf die kurze Figur, in welche er den genannten Text einmal singt, komplett schweigt und die Gitarre ein filigranes und abwechslungsreiches Solo spielt. Im darauf folgenden Teil sind Gitarre und Bariton vereint in einem meist rhythmischen Unisono und einer Parallelführung der Stimmen. Sie gehen scheinbar nebeneinander her, ohne zu kommunizieren, wie es im Text heißt „par l'apparante non communication". Der dritte Abschnitt besteht seinerseits wieder aus drei kleineren Teilen, die das selbe Muster aufweisen,  zunächst spielt die Gitarre eine Folge von vier variierenden Akkorden, in welche hinein der Bariton aufbauend, einmal, zweimal und zuletzt dreimal ein melismatisches „l'échange" singt, welche von der Gitarre aufgegriffen werden und schließlich in fünf, dann drei, dann einem Flageolett münden. Erst nach diesen drei Anläufen kommt dann in einem kurzen Anhang der Satzabschnitt zu seiner Vollendung durch „mystérieux (et) sans parole“, mit Auslassung des et.

 

Dieses, den Teil B abschließende „sans parole“, leitet nun in seiner geflüsterten Form über in den letzten Formteil C, der aus vier aufeinander aufbauenden und sich ähnelnden Abschnitten besteht. Der Text baut sich nach und nach auf, aus „qui“ wird „qui ressemble“, „qui ressemble à la prière“, die immer bei einem „qui“ auf d‘ beginnend in einer leichten syllabischen Figur münden, bis zuletzt, nun nur noch geflüstert das „qui ressemble à la prière intérieure“ erreicht wird und das Stück beschlossen ist.

 

Nachdem ich mich dem konzeptuellen Ansatz einer modernen Interpretation alter Formen und Gattungen sowie der formalen Gliederung durch den Inhalt und die Metrik eines Textes gewidmet habe, soll nun eine kleinteiligere Ebene der Ausdeutung und Korrelation von Sprache in der Musik betrachtet werden. Ich habe mir lange Zeit Gedanken über das Barock sowie die späte Renaissance und über mögliche Übertragungen und zeitgemäße Weiterentwicklungen deren Grundlagen in moderner Musik und Kunst gemacht. Diese standen vor allem auch in Verbindung zur Arbeit des amerikanischen, für eine lange Zeit in Italien lebenden, Künstlers Cy Twombly. Dessen Werk ist fest Verbunden mit der Auseinandersetzung und Konfrontation der Antike und ihren Themen, Epen und Kunstwerken, was insofern einer modernen Neurenaissance entsprechen könnte, zum anderen sind seine großflächigen Gemälde geprägt von der Sprache, von Geschichten, den Zeichen der Schrift und vor allem den Gesten. Gesten sind Bewegungen, energetische Impulse und gezielte Aktionen die in kleinen Details zwischenmenschliche Kommunikation ermöglichen. Gesten können feine Striche, große Ausbrüche, zarte Formverläufe sein, der Freiheit und Vielfalt sind hierbei keine Grenzen gesetzt.

 

Das Barock ist berühmt geworden für die Entwicklung einer Figurenlehre in der Musik. Man komponierte gezielte Motive und Strukturen, um bestimmte Affekte hervorzurufen. Affekte sind kurzzeitige Gefühlsregungen wie Zorn, Freude oder Trauer, die durch äußere Impulse hervorgerufen werden. Wenn man diesen Ansatz nun in abstrakterer und moderner Form betrachtet, gelangt man zur Geste, als Träger von emotionalem Ausdruck und physischer Energie, jedoch ohne eine genaue und absolute Verknüpfung mit festgelegten und durch Gewohnheiten gefestigten Affekten. Aus Gesten aufgebaut entwickelt Cy Twombly Gemälde voller Dramatik und energetischen Wechselwirkungen, entstehend durch seine fragilen, dynamischen, organischen und sich überlagernden Figuren und Kritzeleien. Es ergeben sich farbenfrohe Gesamtcollagen, basierend auf den Bewegungen der Hand, einem dem Schreiben entlehnten Ritus, der fest verbunden ist mit dem Wort, dessen Bedeutung und den Formen der Schrift. Diese feingliedrige Art zu arbeiten und die freie und direkt aus den Gesten kommende Strukturierung und Komposition eines Werks, wurde entscheidend für die Anlage meines „Duo III“ sowie noch stärker, da ausgereifter, polyphoner und weniger rational vorgeprägt in meinem „Quintett II“.

 

Die Komposition des „Quintetts II“ ist unmittelbar verbunden mit der persönlichen Ausdeutung und direkten Übertragung der Sprache des Gedichts in den Gesang. Am auffälligsten ist zunächst die Grundart der Melodieführung, die für meine Verwendung von Gesangsstimmen charakteristisch geworden ist. Der zentrale Gedanke einer an Gesten orientierten Stimmgestaltung zeigt sich in den meist eher kurzen und expressiven Fragmenten, die melismatisch auf wichtigen oder klangvollen Vokalen gesungen, durch Anspannung und Entspannung, enge und weite Intervalle und das energetische Vorandrängen und behutsame Abwarten sehr direkt und emotional wirken. Melismatische Figuren schaffen Linien, deren einzelne Töne in einem Bogen zusammenhängen, sind dadurch in sich geschlossener und abstrahierter, als syllabische Melodien, deren Ausdruck eher durch die Dynamik der Sprache mit ihrer Silbenfolge entsteht, also näher an die Sprache angelehnt ist. Ebenfalls treten in diesen kurzen, virtuosen Wellenbewegungen die einzelnen Kurven und Krümmungen, Sprünge und Brüche der Linie in den Vordergrund. Oft werden diese Melodien verbunden mit lang gehaltenen Tönen, die entweder zu Beginn, als Warten vor der Bewegung, in der Mitte, als kurzes Verharren und Überlegen oder am Ende als schließender Ruhepunkt oder öffnendes Fragezeichen gesetzt werden.

 

Von diesen grundlegenden Melismen ist es nicht mehr weit zum Ornament, welches eher der Zier oder dem Setzen eines kurzen Impulses dient. Die häufigsten Ornamente in meinen Gesangsstimmen sind der Vorschlag und der Triller, wobei dieser der Verwendung des Vibratos ähnelt, welches gezielt und bewusst eingesetzt wird, da in der Regel der Gesang in meinen Stücken immer senza vibrato zu singen ist. Organische Linien sind immer verbunden mit kleinen Unregelmäßigkeiten, rauen Stellen und dem Zittern, also feinsten Bewegungen, die nicht mehr als eigenständige Geste wahrgenommen werden, sondern nur noch als Schwanken oder Ungenauigkeit. Nicht nur die Verwendung von anspruchsvollen Melismen mit schwer zu singenden Intervallfolgen fördert diese kleinen Unsicherheiten und Fehler, da das Profil und der energetische Kern der Geste wichtiger sind, als exakte und absolute Perfektion, der Einsatz von Vibrato und Trillern verstärkt diese zudem. Vorschläge dienen als Anstoß oder kurze Unterbrechung einer Linie und entstammen den natürlichen Ticks und körperlichen Störgeräuschen in unserer Sprache, dem Räuspern, dem Schnalzen, dem Schlucken und vor allem dem Atmen. Abfallende Vorschläge bringen außerdem noch eine Assoziation an das Seufzen, Aufsteigende an ein Aufatmen mit sich. Im „Quintett II“ ist im ersten Teil der Vorschlag einer abfallenden Quinte sehr dominierend, verbunden mit der ersten Silbe des Wortes „schlag“, im dritten Abschnitt ist die aufsteigende Quinte präsent und verknüpft mit „dabei“ und „bleiben“. Beides sind sehr prägnante und ausdrucksstarke Verwendungen dieses Ornaments.

 

Syllabische Linien, meist auch verbunden mit dem Sprechgesang, um den Parlandostil zu verstärken und nicht zu sehr in konventionellen Gesang zu verfallen, verwende ich oft um einen klanglichen Gegenpol zu den bewegten Melodien zu erschaffen. Getragen und schreitend, mit einer gewissen Würde und vollem Fokus auf den Text, werden im Quintett die Textabschnitte „und meine Tränen“ und „ein Mahnmal aus Eis“ beinahe rezitiert. Nicht nur gibt die Ruhe dem Hörer Zeit, sich mehr auf die genauen Töne zu konzentrieren und diese als Klangraum zu erleben, sondern auch der Text und seine Bedeutung nehmen einen höheren Stellenwert ein, weshalb diese Technik nicht umsonst bei zwei zentralen Versen des Gedichts zum Einsatz kommt. Gleichzeitig ermöglicht diese der sonstigen Melismatik entgegentretende Form es mir, auch in einem gewissen rituellen Charakter Bezüge zu erstellen, zu anderen Werken. So ist die Tonfolge von „und meine Tränen“ der von John Dowlands „Flow my tears“ entnommen und bei der Wiederholung der Textzeile nur gespiegelt und „ein Mahnmal aus Eis“ wird auf dem Pendel aus e‘ und d‘ gesungen, das, wie im zweiten Kapitel dargestellt, eine bedeutende Rolle in meinen Arbeiten einnimmt.

 

Eine weitere Geste, die nicht nur für meine Gesangsstimmen, sondern generell für meine Musik entscheidend ist, ist der Punkt. Punkte, also Fragmente, Ausschnitte, einzelne Silben eines großen Ganzen betonen die Rhythmik. Und gerade dadurch, dass sie nicht eingebunden sind in einen organischen Fluss, sondern immer wieder unterbrochen und gestört werden, umgeben sind von der Stille, wirken sie so beunruhigend und sind so unheimlich ausdrucksstark. In der Sprache kennt man den Punkt nur von störenden Eigenschaften, die in der Spracherziehung abtrainiert und vermieden werden sollen, wie dem Stottern, Schluckstörungen oder Wortfindungsstörungen. Nicht nur, weil ich solche scheinbaren Unnormalitäten in der Aussprache äußerst spannend und faszinierend finde, da sie eine schier unendliche Bandbreite an rhythmischer und klanglicher Vielfalt im Rahmen der sprachlichen Möglichkeiten aufzeigen, sondern auch, weil sie musikalisch als Repetition, Verharren oder Stocken vielfältige Verwendungsmöglichkeiten eröffnen, werden Punkte in fast allen meinen Kompositionen explizit verwendet. Das Stottern im Gesang ist ja schon am Beispiel der Wiederholung und Verkürzung des Wortes „vrai“ in meinem „Duo III“ erklärt worden, im „Quintett II“ bekommt den Punkten eine eher spielerische, abstrakt ausdrucksvolle Bedeutung zu. Die Punkte verbinden die Stimme mit den perkussiven Schlägen der zwei Schlagzeuger und zwei Klaviere und tragen dadurch zur trockenen und harten Gesamtaura der Komposition bei. Scharfe Konsonanten wie k und t werden immer wieder vereinzelt eingeworfen und die gesamte Komposition endet auch mit solch einem Punkt.

 

Hier beginnt schon der Übergang von der konkreten Auskomposition einzelner Gesten bezogen auf den Ausdrucksgehalt des Textes hin zum Wortspiel, zur konkreten Poesie, der Klangkunst basierend auf einer abstrakten, nicht an grammatikalische und expressive Strukturen und Regeln gebundenen, Sprache. Die Silben verlieren ihre Konnotation und Bedeutung als Träger von sprachlicher Information und werden vielmehr zu einem reinen Klang, dem eines Instruments entsprechend. Die Stimme ist letzten Endes auch ein Instrument und sie kann auch als rein solches verwendet werden, wie Dada, Nonsensepoesie und die konkrete Poesie gezeigt haben. Statt des Affekts tritt bei dieser Art der Sprachgestaltung die Figurenlehre in den Vordergrund, mit ihren Arten der Verwendung, Anordnung und Kombination von Lauten zu einem Klangkunstwerk. Im „Duo III“ erreiche ich diese Ebene der Sprachpoesie nur durch die exponierte Darstellung und Dominanz einzelner Vokale, um deren Räumlichkeit und Klangeigenschaften in den Fokus zu stellen, man denke an die Idee einer Vokalfarbenleiter. Zu Beginn ist dies vor allem der Vokal e, im zweiten Teil treten a und é in den Mittelpunkt und das Stück endet mit dem hellen i.

 

Beim „Quintett II“ gibt es immer wieder Wörter, welche nie vollständig oder korrekt gesungen werden, sondern vielmehr zerlegt in ihre einzelnen Klangsilben und verstreut in die Zeit hinein gesetzt werden. So beginnt das Stück mit den Silben „sch“, „l“ und „k“, welche frei zusammengesetzt werden, um das Wort „schlag“ zu ergeben, oder noch auffälliger die Abfolge „mch“ und „nch“, deren fehlende Vokale „i“ und „o“ erst später in schreitenden Melodien nachgereicht werden. Hier sind die Grundlagen für mein freies Spielen mit der Sprache und ihren Klängen gelegt, die ich dann im Satz „Print“ des Nonetts zum ersten Mal zur Fülle ausgenutzt habe. Denn dieser Satz besteht nur noch aus einer wortwörtlichen Komposition mit der Sprache, der Gesang singt nicht mehr einen Text, vielmehr füllt er ihn aus, erweckt seine Silben und Farben zum Leben und ergänzt den Inhalt somit um eine tiefgründige Ebene. „Print“ ist ein Sprachstück, es schlagen die Konsonanten p, t und b, es rauscht das r und th, es summt das n, ng und z. Eine Arie, die keine Arie ist, der Versuch, noch in der heutigen Zeit einen lebendigen und sinnlichen Gesang zu erschaffen, der modern ist, hart und streng und dennoch voll spielerischer Leichtigkeit und klanglicher Sorgfalt.

 

Dieser poetische Umgang begleitet mich durch all meine Stücke. Die Art, Dinge aus sich selbst heraus zu entwickeln, ihre eigene Schönheit und Charaktereigenschaften zu präsentieren und Geflechte aus Gesten zu erschaffen, immer orientiert an den Grundsätzen von purity, clarity und brutality, all diese Strategien entstammen letzten Endes meiner Liebe zur Sprache und meinem Streben danach, neue Musik zu entwickeln, die poetisch ist. Ich möchte dichten, ich möchte Geschichten erzählen, ich möchte spielen, ich möchte Erlebnisse schaffen, ich möchte zum Nachdenken anregen. Doch vor allem möchte ich Menschen berühren, mit ihnen sprechen und ihnen zuhören.