III. Scherzo

 

Zu Jahresende 2018 bekam ich von meinem langjährigen Freund, dem Pianisten Viktor Soos, den Auftrag zur Komposition einer kleinen Miniatur für Klarinette und Klavier, welche er zusammen mit seiner Freundin Julia Puls im Rahmen der Finalrunden des Deutschen Musikwettbewerbs 2019 in Nürnberg spielen wollte. Viktor und ich kennen uns schon seit unserer gemeinsamen Jugendzeit in Backnang und haben damals zusammen viele Gottesdienste und kleine Konzerte mit Orgel oder Klavier und Trompete gespielt. Daher weiß ich, was für Musik Viktor mag und kenne seinen Ton und seine Art zu spielen in und auswendig. Auch Julia, die ebenfalls an der Musikhochschule Lübeck studierte, ist eine Freundin von mir und so war dieses Projekt für mich eine große Herzensangelegenheit.

 

Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang wieder an die Zeit in unserer Heimat im kleinen Dorf auf dem schwäbischen Land zurück, in der ich schweigend und lauschend neben Viktor saß, der mir seine aktuellen Stücke vorspielte und wir gemeinsam in der Musik schwelgten. Meistens spielte er die großen Werke der Romantik, voll von der Inbrunst und Emotionalität der stürmischen Jugendjahre: Chopin, Rachmaninow, Liszt und Prokofjew. Und auch das Programm, welches Julia und Viktor für ihr Konzert beim DMW ausgewählt hatten, war dominiert von der großen romantischen „Klarinettensonate Nr.3 in B-Dur“ (1909) von Max Reger. Da mir dies schon zu Beginn meiner kompositorischen Arbeit bewusst war, wollte ich mich im Zuge der Komposition zunächst mit Max Reger beschäftigen und auf dieses Werk in meiner persönlichen Form Bezug nehmen.

 

Max Reger war ein Mensch voller Polaritäten, Extreme und Widersprüche. Sein Werk reichte von tiefster Melancholie und Schwermut bis hin zum großen Genuss und Rausch des Lebens, von der Gebrochenheit und dem Herzschmerz bis hin zur überschwänglichen Jugend und lyrischen Pathetik. Eben diese bunte Vielfalt an Gefühlen und Charakterzügen wollte ich in der Komposition meines „Duo V“ (29.10.2018.-31.01.2019) aufgreifen.

 

Zur selben Zeit setzte ich mich auch recht ausführlich mit der klassischen und romantischen Formenlehre auseinander, da Kerri Kotta, mein Musiktheorieprofessor während der Zeit an der estnischen Musikakademie in Tallin, für ein Seminar in Lübeck zu Besuch gewesen war. Während ich mir in Deutschland recht schwergetan habe, oder immer gehemmt und blockiert war, wenn es um die klassische Form ging, erlebte ich in dem Semester in Tallinn mit Kerri Kotta so etwas, wie eine kleine Offenbarung. Seine Art der Analyse ging sehr stark vom Höhreindruck aus und arbeitete mit unterschiedlichen Typen von Spannungen, Analogien zu rhetorischen Strategien und der Ansicht, dass es in der klassischen Form vorrangig um ein energetisches Spiel mit offenen Fragen und den folgenden angedeuteten oder realen Antworten und Lösungen ging. Durch ihn hatte ich eine neue Sicht auf die Sonate, das Rondo, das Konzert oder die Variationen bekommen. Und als wir uns nun in Lübeck wiedersahen, bekam ich die Idee, in der Komposition meines Duos bewusst auf Typen aus der klassischen und romantischen Musik einzugehen.

 

Da das Duo für Klarinette und Klavier nicht länger als vier Minuten werden sollte, war ich doch recht eingeschränkt in meinen Möglichkeiten einer Formplanung. Daher entschied ich mich dazu, keine große Entwicklung anzulegen, sondern ein collageartiges Potpourri zu gestalten: ein kleines und virtuoses Spielstück, ein Scherzo. Aufgrund meiner Persönlichkeit habe ich jedoch große Probleme mit und Widerstände gegenüber dem Virtuosentum, wie es in der Musik, vor allem im Rahmen von Wettbewerben, oft zelebriert wird. Diese Virtuosität ist immer in der großen Gefahr, in eine reine Selbstdarstellung, egozentrische Show und aufgesetzte Effekthascherei umzukippen. Große Konzertstücke oder auch das konventionelle Wettbewerbsrepertoire, werden oft dominiert von Wettkämpfen zwischen den einzelnen Musiker*innen, Kammermusik wird zur großen Fehde um die Vorherrschaft und die meisterhafteste Spielfertigkeit und die Komposition ist nur noch eine leere Hülle, überfüllt von Pathos und Kitsch.

 

Mein Scherzo sollte hingegen mehr einem beiläufigen, spielerischen und unaufdringlichen Wechselspiel der beiden Instrumente gleichen, einer intimen Form des achtsamen Musizierens. Virtuosität bedeutet auf mein „Duo V“ bezogen die Fähigkeit, im kleinsten Detail präzise zu spielen und aufeinander zu reagieren, souverän und galant technisch anspruchsvolle Gesten einzubinden und vor allem schnell zu wechseln zwischen verschiedenen musikalischen Charakteren. Denn die große Spannung des Stückes liegt gerade im Energiepotenzial scharfer Kontraste, Wiedersprüche und Brüche, den Sprüngen von einem Pol zu einem weit entfernten.

 

Einem Scherzo entsprechend ist das Grundtempo der Miniatur relativ hoch, in etwa Allegro oder Allegretto, das Hauptmotiv wird bei 102 bpm gespielt, das kontrastierende Thema mit 44 bpm, die weiteren sechs verwendeten Tempi sind wie folgt: 132, 120, 96, 84 und 58 bpm. Das gesamte Stück dauert in etwa vier Minuten, wobei es sich in drei Teile gliedert in der Dauer von A= 1,5min, B= 2min und A‘= 0,5min. Hierbei fällt schon die dreiteilige Anlage auf, die an die klassische Form des Scherzos erinnert mit den beiden Scherzo Teilen und einem eingeschobenen Mittelteil, dem Trio. Auch in meinem „Duo V“ ist das Trio im Gegensatz zu den A-Teilen eher dünn besetzt und filigraner, mit wenig thematischem und motivischem Inhalt. Das gesamte Duo basiert, wie schon angedeutet, auf einem Wechselspiel von zehn verschiedenen Klangcharakteren, die im Folgenden in Bezug auf die kleinteilige Form betrachtet und vorgestellt werden. Alle diese Charaktere sind entstanden aus den Klangtypen, welche ich in den klassischen und romantischen Scherzi wiedergefunden habe, vom rustikalen über das tänzerische bis hin zum elfengleichen Scherzo.

 

Der erste große Formteil A (Takt 1-25) ist in einer Variationsform geschrieben und in sich selbst wiederum in vier Abschnitte gegliedert. In der zeitlichen Proportion sind diese im Verhältnis 1:2:1:4 angelegt, wobei der Wert 1 in diesem Fall 15 Sekunden entspricht. A.A beginnt in Tempo 102 bpm mit dem Hauptmotiv a, einer tragisch absteigenden Figur in einem schreitenden staccato Achtelpuls, welches dreimal vom rustikal, kraftvollen b Motiv, bestehend aus einem brutalen, tiefen Akkord-Hammerschlag in Verbindung mit einem leisen, rasenden Vorschlagsornament (aus 1 dann 2 dann 3 Tönen), unterbrochen wird. Auf dieses Hauptthema folgt nun in dem kontrastierenden Tempo von 44 bpm das kleine Seitenthema c, ein Ruhepunkt, inspiriert von einer träumerisch, flirrend hohen Elfenmusik, charakterisiert durch ein großes aufsteigendes Intervall und eine feine Tonrepetition oder später auch ein leichter Triller, im piano-pianissimo gespielt.

 

Motiv A

Motiv B

Motiv C

 

In Takt 5 beginnt nun die erste Variation A.A‘ zunächst mit der Wiederkehr des Hauptmotivs a‘ im Klavier, welches dann von der Klarinette übernommen und fortgeführt wird. Das b‘ Motiv ist nun deutlich ausgebaut, die Hammerschläge treten fünfmal auf, die Vorschläge bestehen hierbei aus 1-3-4-9-13 Tönen, welche immer mehr dem später auftretenden Motiv e, einer virtuosen Geste, entsprechen. Parallel dazu stellt die Klarinette das, aus einem langen, starken Crescendo mit Flatterzunge bestehende Motiv d vor. Nach der Wiederkehr des pianissimo Elfenmotivs erfolgt nun im Klavier überraschend ein Wechsel zu einem dämonisch, wahnsinnig, rasenden Charakter- dem Typ f.

 

Motiv D

Motiv F

 

Die zweite Variation ab Takt 12 ist inhaltlich stark verkürzt und deutlich langsamer gespielt, die Klarinette beginnt mit einer in die hohe Lage transponierten und augmentierten Form von a und mündet in einer tiefen und mit viel Vibrato gespielten Abwandlung des Motivs c. Das Klavier schweigt bis auf einen leisen Akkord in hoher Lage am Ende von Takt 14, der dem später folgenden, nostalgischen Choral (Motiv g) entspringt.

 

Die dritte Variation (Takt 15-25) beginnt erneut mit dem Hauptmotiv a‘‘‘ im Klavier, mündet dann jedoch sofort in einer Fläche bestehend aus den Hammerschlägen von b‘‘ in Kombination mit dem zuvor präsentierten hohen Akkord aus g. Diese werden wieder mit ornamentalen Vorschlägen ausgeschmückt, aus der symmetrischen Folge von 1-2-3-5-8-5-3-2-1 Tönen. Die Klarinette verbindet die langsamen Achtelpulse des Hauptmotivs mit den wilden Schlägen von b durch eine verspielt, schelmische Textur aus einer ununterbrochenen Sechzehntelkette im pianissimo (Motiv h)., welche dann in Takt 18 in einer Vermischung der scharfen Flatterzunge aus d mit dem großen Sprung in die Höhe von Motiv c mündet. Zu diesem Ausbruch der Klarinette erklingen im Klavier zwei leise Fragmente aus a, bevor das Klavier selbst in eine rasende und akzentuierte, absteigende Sechzehntelkette, ein verlängertes f‘-Motiv von der höchsten Lage bis in die tiefste Tiefe wechselt. Was hierauf folgt, ist eine gespiegelte Version von c in der Klarinette mit starkem Vibrato, die Reihenfolge c->f aus den ersten A-Teilen ist somit umgekehrt in f->c. Zudem wird diese dritte Variation noch weiter verlängert, indem der gesamte, aus vier Akkorden bestehende, verklärte Choral g erklingt (Takt 23-25), durchbrochen von zwei komisch oder absurd in die Höhe strebenden Figuren des Motivs e in der Klarinette, die direkt überleiten in den großen Trio-Teil B.

 

Motiv E

Motiv G

Motiv H

 

Dieser zweite große Formteil ist in einer Liedform (B-B‘-C-B‘‘) komponiert, deren Abschnitte in einem zeitlichen Verhältnis von 3:2:4:2 angelegt sind. Die B-Teile basieren auf einer großen Fläche (Motiv i)  im Klavier, bestehend aus einem polyrhythmischen Geflecht zweier Pulsationen in sehr hoher Lage, welche sich nach und nach von einem dichten und vollchromatischen Raum verdünnen zu einzelnen Punkten. In B ist diese Struktur im rhythmischen Verhältnis 7/5 Sechzehntel (Takt 26-41), in B‘ 5/4 Sechzehntel (Takt 42-49) und in B‘‘ 3/2 Achtel (Takt 61-69) angelegt, wobei im letzten Teil die Achtel auch synkopisch um eine Sechzehntel verschoben werden können. Die Ausdünnung erfolgt immer zuerst in der rechten Hand, dem schnelleren Puls und exponentiell, das heißt, die Änderungen häufen sich gegen Ende des Formteils. Zudem verkleinert sich das Cluster der rechten Hand von maximal 8 Tönen in B, über 7 Tönen in B‘ zu 6 Tönen in B‘‘, während die Harmonik der linken Hand zu Beginn eines Teils stets aus einem 5-tönigen Cluster besteht.

 

Motiv I

 

Über dieses kristalline, reine Zittern des Pianos legt sich nun eine melancholisch, pathetische Melodielinie (Motiv j) der Klarinette. In B basiert diese vorrangig auf einem Achtelpuls, an das schreitende a-Motiv erinnernd, und führt gegen Ende des Abschnitts ab Takt 37 über einen virtuosen Ausbruch (e‘‘ Motiv) hin zum hohen Triller mit Crescendo (d‘‘). Bei der Wiederkehr in B‘ hat sich der Grundpuls nun in Viertel-Triolen gewandelt, zudem treten die scharfen und beißenden Triller auch früher und häufiger auf und der Teil endet ohne eine virtuos aufstrebende Figur.

 

Motiv J

 

Stattdessen beginnt in Takt 50 abrupt der eingeschobene Mittelteil C (bis Takt 60). Dieser Abschnitt ist wie ein kleines Rondo (abababababa) gestaltet, in dem sich das Klavier, mit einem von fünf Akkorden, welche dem g-Choral entnommen und um einen Akkord erweitert wurden, und die Klarinette, mit einem Fragment der schelmischen Sechzehntelkette h, stets abwechseln. Dabei wird der Raum, den der Akkord als Ritornell einnimmt, stets länger, während sich die Episode der Klarinette immer weiter verkürzt. Außerdem wandelt sich das gleichmäßige Sechzehntelmotiv h immer weiter ab zum virtuos verzerrten Charaktertyp e.

 

Im letzten B‘‘ Teil spielt die Klarinette nun nur noch ihre melancholische Melodie, basierend auf Viertel-Quintolen. Von dem kräftigen Triller oder freien Spiel der ersten beiden B-Teile ist nichts mehr übriggeblieben. Ebenfalls versiegt die Klarinette nun zusammen mit dem Klavier im al niente und mit der großen Pause, der einzigen wirklichen Stille im gesamten Stück, in Takt 69 endet das Trio.

 

Was folgt ist nun eine einteilige Reprise, der dritte Scherzo Formteil A‘‘ oder die vierte Variation von A‘‘.A‘‘‘‘ (Takt 70-77). Das Hauptmotiv a erklingt im Klavier, mündet in einem einfachen Hammerschlag (Motiv b) mit Einzelton Vorschlag und führt in ein tiefes, grummelndes Klarinettencrescendo mit Flatterzunge (Motiv d). Somit sind hier auf engstem Raum noch einmal die auffälligsten Charaktertypen präsentiert, bevor mit dem Motiv f‘‘ ein rasend schnelles Finale beginnt. Im rhythmischen Unisono preschen Klarinette und Klavier gemeinsam, so schnell wie möglich, aus der höchsten Lage mit voller Kraft im ffff bis in die Tiefe, wo das Stück ebenso überraschend im Nichts endet. Das elfengleiche Motiv c in ruhiger und sinnlich schwebender Höhe tritt hier in der Reprise nicht mehr auf, stattdessen bleibt zuletzt die Stille zurück- gefüllt mit dem inneren Nachklang des exzessiven Finales.