VI. Spiel

 

Das Spielen steht schon im Titel meiner interdisziplinären Soloausstellung „Intentionally Left Blank _ for play“ (25.07.2019-07.06.2020). Dieses Projekt, eine Sammlung und Kombination verschiedener Arbeiten in unterschiedlichen Medien, entstand durch eine Finanzierung von der Kulturförderung der Stadt Stuttgart für den freien Kreativraum der HuMBase in Stuttgart. Zum ersten Mal entwarf ich eine Veranstaltung von der Finanzierung über die Terminplanung bis hin zur technischen Realisation komplett selbst, mit der Unterstützung vom Team der HuMBase, der Kunstvermittlerin Sara Dahme und meinem Vater, mit dem ich die Produktion mehrerer Installationen vornahm.

 

In „Intentionally Left Blank _ for play“ kommen unterschiedlichste Formen des Spiels zusammen. Alle auf den drei Etagen ausgestellten Werke enthalten Möglichkeiten der Bedienung und sind auf eine gewisse Art und Weise „absichtlich leer gelassen“, um erst von den Besucher*innen ausgelöst, ausgefüllt, ausgeführt oder zum Leben erweckt zu werden. Ich als Künstler komme somit eher als Impulsgeber, als (Er-)Schaffer von Rahmen, Räumen und Spielregeln zum Vorschein, denn als alles planender und schöpfendes Geist eines Gesamtkunstwerks. Für mich war das Projekt eine Herzensangelegenheit, seit meiner ersten Ausstellung „Debris“ (2015) und den kleineren Installationen wie „Find Me“ (2018) oder „Durst“ (2017) hatte ich mir immer wieder gewünscht, ein größeres, multimediales Werk anzugehen. Auch aus dem Grund, dass ich eben nicht nur Komponist von zeitgenössischer, instrumentaler Konzertmusik bin, sondern genauso sehr zeichnerisch, philosophisch, literarisch oder konzeptuell arbeite. „Intentionally Left Blank“ bildete somit für mich mein persönliches „Meister“-Stück zum Masterabschluss, das Resultat von sechs Jahren Studium und Vertiefung in vielen verschiedenen Künsten, Wissenschaften und anderen Bereichen.

 

Jedes zusammenhängende Spiel oder jeder isolierte Teil der Ausstellung bietet auf seine eigene Art gewisse Grenzen und Voraussetzungen, wodurch eine Interaktion ermöglicht wird. Dabei sind manche sehr intuitiv und auf Improvisation abzielend, andere mit kontrollierten Regeln und begrenzten Möglichkeiten, wiederum andere mit dem Widerspruch von konditionierter Erwartungshaltung und bewusst persönlicher Entscheidung gestaltet. Das Publikum kann sich jederzeit frei durch die Ausstellungsräume der ehemaligen Kirche bewegen, aufgrund der Bauform ist jedoch ein Weg vom Untergeschoss mit der Eingangstür durch den Hauptraum des alten Kirchenschiffs bis auf die Empore vorgegeben. An diesem Weg entlang finden sich immer wieder einzelne Stationen mit Materialien oder ausgestellten Kunstwerken, ein „Spielplan“ mit kurzen Informationen wie Namen und Position der Arbeiten, Bedienungsanleitungen und kurzen Regeln allgemeiner Art liegt am Eingang aus.

 

Neben diesem Spielplan sind auf dem Fußboden Wege mit Klebeband abgeklebt die durch das Erdgeschoss führen. Offene Enden mit weiteren Rollen des Bandes laden dazu ein, eigene Wege zu legen oder Räume auf dem Boden abzutrennen. Anstatt Kleidung hängen gleichförmige Etiketten mit Buchstaben, die Wörter bilden, welche mit „Selbst“ verbunden werden können wie „Verwirklichung“, „Bewusstsein“, „Hass“, „Liebe“, etc., an der Garderobe. Vor dem Spiegel, mit einer, aus blauem Lippenstift geschriebenen Aufschrift „selbst“, steht ein Mikrofon mit einem Kopfhörer, wodurch man sich selbst hören kann. Zudem befindet sich beim Spiegel noch eine kleine Ansammlung mehrerer Utensilien, die als Makeup oder zur Maskierung verwendet werden können, wie Lippenstift oder Nagellack. Zuletzt ist an der Wand ein Anrufbeantworter angebracht, der über eine Nummer angerufen werden und besprochen werden kann. So lassen sich Nachrichten aufnehmen und von anderen Menschen durch die Wiedergabetaste wiederum abhören.

 

Diese rohe Assemblage von Dingen und fragmentierten Worten bildet das Portal zu den ausgearbeiteten Werken in den höheren Etagen. Hier geht es darum, den Alltagsstress hinter sich zu lassen und auch seine Schutzmechanismen abzulegen, um sich durch einfache Übungen zu trauen, aktiv zu werden und an der Kunst teilzuhaben. Denn dies ist die Voraussetzung, um „Intentionally Left Blank“ erleben zu können, dass die Besucher*innen auch die Angst überwinden oder den Mut aufbringen, um zu spielen.

 

In „The White Page“ können sie einen kleinen modularen Synthesizer mit vorgefertigten 256 musikalischen Aphorismen bedienen, indem sie auf einem Kontaktmikrofon reiben, einen Knopf drücken oder mit Drehreglern die Klänge in ihrer Wiedergabegeschwindigkeit oder Lautstärke manipulieren. Die Aphorismen sind winzig kleine Kompositionen, im Bereich von Millisekunden, die ich über mehrere Monate hinweg konstruiert, komponiert und dann mit meinem modularen Synthesizer, genauer gesagt einem hochpräzisem Sinustongenerator, aufgenommen habe. Zusätzlich zu der bedienbaren Blackbox mit dem Kontaktmikrofon und Sampleplayer, hängt ein riesiges, weißes Plakat darüber aus. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es jedoch nicht vollkommen weiß ist, sondern, dass sich winzig kleine, schwarze Flecken darauf befinden: die Notationen der 256 Stücke in Mikroform.

 

„Immer weiter“ ist ein auf acht Holzplatten verteiltes Steckfeld, bei dem sich durch Stecken von Kabeln Wortverbindungen zu poetischen Strukturen zusammenpatchen lassen, die dabei auch, von einem Vocoder gesprochen, erklingen. Die Worte entstammen einem Text konkreter Poesie, den ich inspiriert von der Literatur des science fiction geschrieben habe und so sind darin auch einige Wortneuschöpfungen und pseudotechnischen Angaben enthalten. Hier spielt, wie an verschiedenen Stellen der Ausstellung, das Spiel mit der Sprache, dem Sprechen, der Rhetorik, der Poesie und der Symbolik eine große Rolle und wirft die Frage auf, was und wie Kommunikation denn so sein kann.

 

Noch aktiver wird die Beteiligung von den zwei ausgestellten grafischen Partituren gefordert: „[mensch]“ lädt mit der Variation einer einfachen rhythmischen Zelle „lang-kurz-Pause“ dazu ein, mit Gegenständen, Bodypercussion oder der Stimme Geräusche zu erzeugen; „Fünf makabre Gesänge“ sind hingegen ausgearbeitete Improvisationsstücke, die vokale Klänge mit körperlichem Ausdruck, Mimik, Gestik und Tanz verbinden. Diese beiden Partituren können theoretisch mithilfe der Anleitung von allen Menschen, solistisch oder im Kollektiv, ausgeführt oder interpretiert werden.

 

Im gesamten Ausstellungsraum verteilt finden sich kleine Schatzkisten mit handgeschriebenen Briefen verschiedener Menschen zum Thema „Ich habe Ja gesagt“, die gelesen und wertgeschätzt werden können und dazu einladen, selbst einen Brief zu schreiben und in eine noch leere Kiste zu legen. Dieses Schreiben fordert dazu auf, sich einmal mit den Alltagserlebnissen auseinanderzusetzen, sich Gedanken zu machen über bewusste Entscheidungen, wichtige Ereignisse im Leben und die Rolle der freien Individualität.

 

Zuletzt befindet sich auf der Empore ein ruhiger, mit einem weißen Vorhang abgetrennter, Ort der Meditation über die Natur und das Rauschen unserer Um-Welt. Auf drei Wiedergabegeräten, einer Mini Disc, einem Kassettenrekorder und einem MP3-Player, verteilt können drei meiner auf Rauschen aufbauenden Stücke angehört werden: das Rauschen von Mineralwasser in „Durst“, das Rauschen einer Kassette in „Tape“ und das Rauschen eines Raumes und menschlicher Klicklaute in „I miss the cold“. Diese Stücke habe ich aus vorherigen Arbeiten entnommen und in die Ausstellung mit eingebaut, da sie gut in das Konzept des absichtlich leer gelassenen passen und zusammen in diesem Raum eine neue Einheit und Wechselwirkung ergeben. Neben den Klangquellen befinden sich noch mehrere große Sitzkissen auf dem Teppichboden, sowie ein Wasserkocher mit welchem sich ein Tee kochen lässt und das letzte visuelle Kunstwerk auf der Empore. Die „33 Trios“ sind inspiriert von Legespielen / Puzzles und bestehen aus schweren, weißen Karten (21*21cm), auf denen ich je drei Linien in drei kalten Blautönen gezeichnet habe. Diese lassen sich aneinanderlegen und verbinden, jedoch ohne, dass das Spiel aufgeht und das Puzzle gelöst werden kann. Zudem liegen weiß gelassene, unbemalte Karten, mit drei Graustiften bereit, die von den Besucher*innen für eigene Zeichnungen und Ergänzungen meiner Trios verwendet werden können.

 

All das zeigt, wie vielseitig und komplex die Ausstellung angelegt ist und wie viel sie auch vom Publikum erwartet oder voraussetzt, es zeigt, wie vielseitig das Spielen sein kann. Spielen ist ein Akt der Erfahrung. Wir erfahren etwas über unsere Gefühle, über die Kommunikation miteinander, die Interaktion mit Objekten und Subjekten, wir verschaffen uns Zugang zu Wissen und Verständnis über diese Welt und uns selbst. Wie Dietmar Dath sagt „Spielen heißt nicht, etwas nicht tun, sondern nur so tun, als täte man etwas.“. Wir lassen uns auf das Spiel ein und finden dadurch neue Strategien heraus, entdecken verborgene Strukturen und überdenken unsere Herangehensweise. Oftmals wird das Spielen als „Kinderspiel“ belächelt, dabei ist gerade für Erwachsene das Spiel auch essenziell notwendig, egal wie ernst, nicht zuletzt auch, um Vorbild sein zu können für die Kinder, denen wir das Spielen so viel eher zutrauen.

 

„Intentionally Left Blank _ for play“ bringt Facetten zum Vorschein, soziale Strukturen und Persönlichkeitstypen, die wir in der Realität gerne verstecken. Denn die emotionale Wirkung der Ausstellung ist nicht zuletzt auch dadurch geprägt, wie wir uns darin im Kontext zu den anderen Menschen verhalten. Sind wir passive Zuschauer*innen, die versuchen, Distanz und Abstand zu wahren, aus der scheinbaren Sicherheit heraus beobachten und nichts an uns heranlassen? Sind wir voyeuristische Menschen, die neugierig betrachten, wie sich die anderen wie Laborratten in Versuchsexperimenten verhalten? Sind wir selbst dabei nur überwacht und ausspioniert von einer höheren oder unsichtbaren Macht, ist die ganze Ausstellung mit ihrem Rundgang nicht irgendwie doch auch sehr manipulativ und durchgescripted, wie das Drehbuch eines Choices-Matter-Rollenspiels, werden wir bei unserem Besuch womöglich unerlaubt gefilmt oder aufgenommen? Sind wir wirklich frei spielend und kreativ handelnd oder doch nur Maschinen oder Roboter, die Ausführen, was von ihnen erwartet wird und sich dessen nicht einmal bewusst sind? Sind wir selbstbewusste Exhibitionisten, die lautstark, raumgreifend und energetisch Spielen und kein Problem damit haben, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller anderen zu stehen? Sind wir Menschen, die sich vom Gruppenzwang leiten lassen, von dem Druck, den die Masse auf uns ausübt oder den Impulsen und dem Mut, die uns die anderen geben? Sind wir Einzelgänger*innen, die sich lieber isolieren, zurückziehen und in Selbstversenkung und Selbstaufgabe auf sich selbst gestellt und alleine die Spiele spielen?

 

All das können und dürfen wir sein, gerade auch im Raum der Ausstellung. Denn dazu soll die Kunst uns einladen. Sie wertet und verurteilt nicht, sie ermöglicht vielmehr, dass wir kurzzeitig einmal alle Ängste, Zwänge, Pflichten oder Erwartungen hinter uns lassen, konfrontieren oder ausleben. Denn nur dann können wir freie Individuen sein, nur dann können wir kreativ spielen, was uns in dem Alltag, der Realität dieser Welt, so oft verwehrt bleibt.

 

Deshalb spiele ich so gerne und deshalb war es mir so wichtig, mit diesem Projekt eine Verkörperung dessen zu erschaffen, was für mich spielen bedeutet und warum wir uns öfter Raum und Zeit zum Spielen nehmen sollten. Spielen heißt, etwas zu tun, ohne eine Absicht zu verfolgen, ein Ziel zu erreichen, einen Sinn zu erfüllen, einem Gesetz mechanisch zu folgen, eine Aufgabe zu lösen, einen Wert zu produzieren, einen Nutzen zu haben, einen Gebrauch zu konsumieren, einen Mehrwert zu erlangen, eine kitschige Schönheit zu genießen, eine Ideologie zu verwirklichen, einen dekadenten Luxus anzustreben, einem naiven Rausch zu verfallen. Spielen ist daher das höchste Gut, welches uns die Freiheit, die Sicherheit und die Unabhängigkeit von den Gefahren unserer Welt, schenkt. Ein Gut, von dem Menschen in Hunger, Armut, Krieg, Zwangsarbeit, Sklaverei, Unterdrückung, Gewaltsituationen und Terror nur träumen können.

 

„Intentionally Left Blank _ for play“ ist daher mit Absicht möglichst inklusiv gestaltet, es ermöglicht auf vielfältige sensorische, kognitive und sinnliche Arten Teilhabe und Zugang und ist, nicht nur finanziell oder strukturell, barrierefrei und mit niedriger Hemmschwelle eingerichtet. Ich wünsche mir, dass in der Vielzahl der Arten, in den unterschiedlichen Disziplinen und Medien, die hierin vereint sind, für alle Menschen zumindest irgendetwas dabei ist, womit sie spielen möchten. Sei es durch das Hören, das Lesen, das Schreiben, das Tanzen, das Tasten, das Sprechen, das Kombinieren, das Bewegen, das Riechen, das Schmecken, das Stecken.

 

Zu Beginn der Arbeit an diesem Projekt, habe ich mich intensiv mit Kunst und Design für Menschen mit Autismus, Diversitäten und Störungen beschäftigt und wie bestimmte Gegenstände und Spiele ihnen helfen können, sich selbst auszudrücken, die Welt besser wahrzunehmen und ihr Leben erfüllter zu gestalten. Aus meiner Erfahrung mit der Arbeit im queeren Bereich, in der Aufklärungs-, Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit, habe ich gelernt und auch biografisch erlebt, wie schwer es ist, einer Minderheit anzugehören, als fremd, anders, unangepasst, unnormal oder falsch angesehen und beschimpft zu werden. Wie der*die Entwickler*in von Gegenständen zum Spielen Cas Holman sagt: „I’m doing it for all the weirdos!“. Und auch ich möchte in „Intentionally Left Blank _ for play“ und auch in allen meinen für mich komponierten Stücken wie „[sic]“ genau dieser Idee folgen: Räume, Geschichten, Erlebnisse und Spiele zu erschaffen, in denen wir alle, so wie wir sind, angenommen, achtsam behandelt und bestärkt werden. In denen wir uns alle voller Neugier, Spannung, Lust und Lebendigkeit auf die Suche machen, in der wir Freiheit wagen können. Denn Freiheit zum Spielen ist ein Privileg, ist die große Chance und Aufgabe der Künste und kreativen Disziplinen. Und dieses Spielen ist, was ich liebe und wofür ich weiterhin kämpfen und woran ich ständig weiterarbeiten werde.